Und die Großen lässt man laufen
ist allerdings längst vorbei.
Die Häuser Dragors sind niedrig und pittoresk, in fröhlichen Farben verputzt oder gestrichen, die Gärten sind lauschig und duften nach Beeren, Blumen und üppigem Grün. Die engen Straßen und Gäßchen haben vielfach noch das alte Kopfsteinpflaster. Der lärmende und stinkende Autoverkehr von und zu den Fähren rauscht am Stadtrand vorbei, und in den alten Vierteln zwischen dem Hafen und der Autobahn herrscht relative Ruhe.
Es kommen noch immer Sommergäste nach Dragor, trotz der schlechten Bademöglichkeiten, und an diesem Dienstag, Anfang Juli, waren alle Zimmer im Strandhotel belegt.
Es war drei Uhr nachmittags, und auf der Veranda vor dem Hotel beendete gerade eine dreiköpfige Familie ihren verspäteten Lunch.
Die Eltern saßen noch friedlich bei einer Tasse Kaffee und einem kransekage, nur der Sohn, der sechs Jahre alt war und Jens hieß, konnte nicht länger stillsitzen. Er lief ständig zwischen den Tischen umher und redete unaufhörlich auf seine Eltern ein. »Können wir jetzt nicht endlich gehen? Ich will die Schiffe ansehen. Trinkt doch endlich euren Kaffee aus. Beeilt euch. Aber jetzt können wir doch gehen. Können wir jetzt nicht zu den Schiffen gehen…«
Und so weiter, bis seine Mutter und sein Vater genug hatten und aufstanden.
Hand in Hand schlenderten sie zu dem alten Hafenpavillon hinunter, der heute ein Museum ist. Im Fischereihafen lagen nur zwei Boote, und es war anzunehmen, daß einige sich draußen im Sund befanden, um quecksilbervergiftete Schollen aus dem Wasser zu holen.
Der Junge blieb auf der Kaimauer stehen und begann, Steine und Holzstücke in das trübe Wasser zu werfen. Er sah mehrere interessante Gegenstände, die im Wasser trieben und gegen die Kaimauer stießen, aber die Entfernung dorthin war zu groß. Er konnte sie nicht erreichen.
Etwas weiter weg lag der Fährhafen. Auf der großen asphaltierten Plattform standen mehrere Wagen aufgereiht und warteten auf die Fähre, die sich draußen auf dem in der Sonne glitzernden Wasser näherte.
Die drei Sommergäste kehrten um und promenierten langsam am Wasser entlang zu den Häusern und Villen zurück. Am Nordre Strandvej blieben sie stehen und wechselten einige Worte mit einem Bekannten, der seinen Hund spazierenführte.
Dann setzten sie ihren Weg fort, bis die Straße und die Bebauung aufhörten und das Gelände des Kastruper Flughafens begann. Dort bogen sie nach rechts ab und gingen zum Strand hinunter.
Jens fand ein kaputtes grünes Kunststoffboot und spielte damit, während seine Eltern am Strand im Gras saßen und zusahen. Schließlich war sein Interesse für dieses Spiel erschöpft, und er begab sich auf Entdeckungstour, um nach Strandgut zu suchen. Er fand einen leeren Milchkarton, eine Bierdose und einen Kondom und bereute bitter, die Fundsachen seinen Eltern gezeigt zu haben, da sie sofort verlangten, daß er alles wegwerfen solle.
Sein Vater war gerade aufgestanden und hatte nach ihm gerufen, als er am Ufer eine geheimnisvolle Sache entdeckte. Eine Kiste.
Vielleicht eine Schatzkiste? Er lief hin und hob sie auf.
Sein Vater nahm ihm natürlich die Kiste weg. Der Junge protestierte zwar lauthals, verstummte aber bald, weil er wußte, daß es zu nichts führen würde. Seine Eltern sahen die Kiste an. Sie war völlig durchtränkt, und das schwarze Papier, das auf den dicken Karton aufgeklebt war, hatte sich an einigen Stellen gelöst. Dennoch war der Karton nicht gewellt und der Deckel, der nicht richtig saß, unbeschädigt. Als sie den Karton näher betrachteten, sahen sie auf dem Deckel einen gedruckten Text: ARMINIUS 22 Und darunter, in kleineren Buchstaben: Made in West Germany Diese Kiste fing an, ihre Neugier zu erregen. Sie öffneten sie vorsichtig, um nicht den wasserdurchtränkten Deckel zu beschädigen.
Die Kiste war gefüllt mit einem federleichten Block aus weißen Styroporkügelchen, die heutzutage in unvorstellbaren Mengen an den Küsten Dänemarks und Schwedens herumwirbeln: im Öresund, in der Ost und der Nordsee.
In den weißen Kunststoffblock waren einige zweieinhalb Zentimeter tiefe Profile geschnitten. Das eine zeigte die Umrisse eines Revolvers mit sehr langem Lauf, das andere hatte eine etwas unbestimmtere Form. Man konnte nicht sofort sehen, was dort einmal gelegen hatte.
»Eine Kiste für eine Spielzeugpistole«, sagte die Frau achselzuckend. »Aber nicht doch«, sagte der Mann. »In dieser Kiste hat ein richtiger Revolver gelegen.«
»Woher weißt du
Weitere Kostenlose Bücher