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Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Persona Verlag
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alten Frau. Das Mädchen, das schon kein Kind mehr war, machte ihr auf und stand überrascht vor ihr.
    Ich habe dir doch gesagt, dass ich komme und ich abhole? Hier, ich bin eine Mutter, die hält, was sie verspricht.
    Als die Tochter das Heft erblickte, versuchte sie sofort, es in ihren Besitz zu bekommen. Sie zog heftig am Engel auf dem Umschlag. Die Enkelin wehrte sich energisch. Sie will die Geschichte nicht mit anderen teilen. Vor allem nicht mit ihrer Mutter. Besonders nicht mit ihrer Mutter.
    Die alte Frau beobachtete ihre Enkelin befriedigt und sagte sich, ausgerechnet die schlimmsten Eigenschaften vererben sich. Das sagte sie und meinte das Gegenteil.
    Auch die Mutter der Enkelin gehört nicht zu denen, die leicht aufgeben. Wenn sie schon nicht als Adressatin der Geschichte ausgewählt wurde, dann sollte diese niemandem gehören.
    Man muss nicht alles wissen.
    Alles ist schon geschrieben worden.
    Außer dem, was nicht geschrieben wurde.
    Mutter, mach mir das Mädchen nicht verrückt.
    Zum ersten Mal an diesem blendenden Nachmittag erscheint ein Lächeln auf den Lippen der alten Frau. Die Erkenntnis, dass diejenigen, die von ihr abstammten, zu Experten des Überlebens geworden waren, freute sie.
5
    Als die Bäuerin sie aus dem Erdloch holte, bedeckte das Mädchen, das sie einmal war, die Augen. Das grelle Licht gab ihr für einen Moment die Illusion des Weinens zurück, obwohl sie ein wirkliches Weinen nie mehr erleben würde.
    Der Bauer brüllte, was für ein schrecklicher Gestank. Du musst sie erst waschen.
    Sie war sicher, blind zu sein. Sie sah nichts. Die Bäuerin sagte, bekreuzige dich, sage danke, und zog sie in die Kirche.
    Sie traten ein, und die Bäuerin zerrte sie wie einen Sack Kartoffeln hinter sich her.
    Ihr ganzer Körper juckte wegen der Läuse.
    Du stinkst. Sogar Jesus würde sich die Nase zuhalten. Bitte ihn um Verzeihung.
    Aus der Öffnung eines schwarzen Kastens tauchte dieser Stefan auf. Das ist der Beichtstuhl, verkündete die Bäuerin. Das sechsjährige Mädchen verstand, dass man sie hier in eine andere Dunkelheit stoßen würde. Eine schwarze Gestalt schob den Kopf aus der anderen Seite des schwarzen Kastens.
    Das ist der Herr Pfarrer, küss ihm die Hand. Und die Bäuerin schob sie hinein.
    Das Mädchen, das sie einmal war, schwankte, stolperte, kroch. Bekannte sich zum ersten Mal zum Ave Maria.
    Heilige Mutter Gottes, danke, dass du mich blind gemacht hast. Sie würde keinen Stefan mehr sehen, der mit ihr tun würde, was der andere Stefan tat.
    Sie konnte es nicht benennen.
    Damals.
    *
    Diese Geschichte zwischen ihren Beinen. Sie muss herausgerissen werden.
    Ausgeschaltet.
    Aber ohne ihr einen Namen zu geben. Nicht weil sie das genaue Wort nicht weiß. Ihre Enkelin ist einfach zu scharfsinnig. Das ist gefährlich. Die alte Frau nimmt ihre letzte Kraft zusammen, um es zu verschließen. Denn falls sie sie es ausspricht …
    *
    »Falls.« Ein hartes, unerbittliches Wort, das manche so leicht benutzen wie »wenn«.
    Wenn man sie nicht hingebracht hätte …
    Wenn es das Dienstmädchen nicht gegeben hätte …
    Wenn es den Bauern und seine Frau nicht gegeben hätte …
    Wenn sie kinderlos gewesen wären …
    Wenn ihre Eltern nicht versprochen hätten …
    Versprochen.
    Dieses Wort müsste für alle Ewigkeit getilgt werden, es hätte in keiner Geschichte vorkommen dürfen, und auch nicht außerhalb von Geschichten.
    *
    Vor dem schwarzen Kasten kniete der Sohn des Bauern vor der Figur einer goldgeschmückten Frau.
    Sancta Maria, mater dei, nunc et in hora mortis nostrae. Mach, dass er sich nicht umdreht. Amen.
    Sein Gesicht bewegte sich, er drang in sie ein. Ihre Sehkraft war zurückgekommen. Das Zittern – zwischen ihren Beinen und in den anderen Körperöffnungen – brachte die Läuse dazu, abzufallen.
    Die Bäuerin sagte, beichte, du kleine Sünderin.
    *
    Schwarzer Mann, ich hoffe, du stirbst.
    Auch Ave Maria ist gestorben.
    Der Mann in dem Kasten zieht Kekse unter seiner Kutte hervor, kleine, runde. Ihr Mund geht weit auf vor Hunger. Er legt sie sofort auf ihre Zunge, alle auf einmal.
    Mädchen, Jesus ist jetzt dein Vater und deine Mutter.
    Ich brauche keine Eltern, sagte sie zu dem Priester. Hoffentlich sterben sie.
    Das Wort »mein Vater« ließ sie weg, um den Schmerz zu vermeiden.
    Als er sie zu sich nahm, war sie nass von ihrem eigenen Urin. Kot beschmierte sie bis zu den Füßen. Ihre Ursünde. Der Gestank erfüllte die Kirche, aber der Priester verlangte keine Buße.

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