Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Persona Verlag
Vom Netzwerk:
Der ganze Inhalt ihres Körpers floss vor der goldenen Mutter heraus, und der Mann in Schwarz kniete nieder und wischte alles mit seinen Händen auf.
    *
    Es ist unmöglich, die Geschichte endlos fortzusetzen. Sie muss ein Ende finden, auf die eine oder andere Art. Als die alte Frau die Geschichte zum ersten Mal von ihrer eigenen Stimme hörte, war sie froh, dass sie weder Ordnung noch Klarheit aufwies. Wenn wir die Geschichte in Worte übersetzen, indem wir einen Teil unseres Körpers benutzen, erschaffen wir dadurch zwangsläufig eine neue, verzerrte Version? Wenn es möglich wäre, hätte die alte Frau sich freiwillig die Erinnerung herausschneiden lassen, nur damit diese Erinnerung außerhalb ihres Körpers weiter existieren könnte. Die alte Frau will, dass viele die Geschichte erfahren, aber ohne sie mit ihr in Verbindung zu bringen.
    *
    Es gibt Dinge, von denen die alte Frau nicht weiß, dass sie sie nicht erzählt. Aber etwas lässt sie wissentlich aus. Klingeln an der Tür, überraschend oder erwartet, Klingeln, früh oder spät.
    Sie geht zur Tür, um zu öffnen. Wenn sie vor der verschlossenen Tür steht, sticht sie der schärfste Stachel von allen. Vielleicht sind sie zurückgekommen. Sie haben es doch versprochen. Obwohl fast siebzig Jahre vergangen sind.
    Das erzählt sie nicht, vielleicht aus Scham, und vielleicht deshalb, weil sich der Zorn plötzlich in unerträglichen Schmerz verwandelt. Sie schließt die Augen, überlässt sich der Dunkelheit. Sie atmet kaum, wenn ihre Hand auf die Klinke drückt.
    *
    Es ist nur zu deinem Besten.
    Nur um diesen Stefan aufzuhalten, hätten ihre Eltern zurückkommen müssen. Wenn sie nicht zurückkamen – von wo auch immer –, ist das ein Zeichen, dass sie ihre Verantwortung abgeschüttelt haben, sie verdienen es nicht mehr, Mutter oder Vater zu sein, falls es überhaupt jemanden gibt, der das verdient.
    Die Stacheln der Erinnerung werden stechen, bis ihre Zeit gekommen ist. Es ist sinnlos, sie in irgendeinem Heft festzuhalten, unter dem Schutz eines kommerzialisierten Engels, denn die Zeit ist sehr nahe.
    Es ist zu deinem Besten. Diesen Stachel herauszuziehen, würde die Zerstörung des ganzen Gebäudes bedeuten.
    Und wo war ihr Vater, als ihre Mutter ihr den Rücken zuwandte?
    Auch das ist kein gewöhnlicher Stachel, der einfach herausragt, sondern ein weiß glühendes Rasiermesser, das die Geschichte in ganzer Länge spaltet. Während sie mit ihrer Enkelin spricht, versucht die alte Frau, sich ihren Vater zu vergegenwärtigen. Stand er an der Treppe oder hinter dem Dienstmädchen? Vielleicht versteckte er sich hinter dem Spitzenvorhang mit dem Rosenmuster.
    So oder so, es ist ihr erspart geblieben.
    Jedesmal, wenn sie in fremde Städte fuhr, suchte sie im Telefonbuch nach den Namen ihrer Eltern.
    *
    Sie will nicht länger Jüdin sein.
    Der Priester sagte, auch Jesus war Jude.
    Das Mädchen, das sie einmal war, fragte, und deshalb hat man ihn umgebracht?
    Der Priester schwieg.
    Als er sie in den Arm nehmen wollte, floh sie zum Kreuz. Sie schlug gegen das Holz, überließ sich den blutenden Händen über ihr. Vielleicht erbrach Jesus sich auch, pinkelte und kotete vor Angst. Armer Jesus. Seine Mutter ist Jüdin. Juden sind böse Eltern. Jesus ist der Bruder, den sie nicht hatte und nie haben würde. Genau wie sie hat er aufgehört, Jude zu sein.
    Jesus hält, was er verspricht.
    *
    Die alte Frau hat gelernt, ihr Lachen zu beherrschen, denn es ist ebenso verräterisch wie Weinen. Deshalb ist es auch schwer, Humor in ihrer Geschichte zu finden. Dennoch muss man von Zeit zu Zeit lächeln. Jede Geschichte verlangt komische Zäsuren. Sonst gerät auch der treueste Zuhörer in Panik und läuft weg.
    In der Dunkelheit suchte sie die Ratte. Teilte das Stück Brot mit ihr. Nur ihretwegen wurde die Ratte dick. Mit Lippenbewegungen rief sie sie, und die Ratte drehte ihr nie den Rücken zu.
    Bevor sie sie aus der Erde nach oben brachten, sagte die Bäuerin, ihr Juden nehmt den ganzen Platz im Paradies in Beschlag. Euretwegen müssen wir alle zur Hölle fahren.
    Ave Maria sagt zu Jesus, rutsch mal, mein Sohn, zu viele jüdische Kinder kommen aus den Löchern, man muss ihnen Platz machen. Ha, ha, ha, amen.
    Humor ist die einzige Reaktion auf Katastrophen. Auch jetzt macht sich die Erzählerin lächerlich: Eine alte Frau sitzt an einem blendend hellen Nachmittag in Tel Aviv, in einem Zimmer, dessen Rollläden heruntergelassen sind. Gelähmt vor Angst vor dem, was ihre

Weitere Kostenlose Bücher