Und die Ratte lacht - Roman
Geschichte ihrer Enkelin antun könnte.
Sie soll ihr nur nicht den Rücken zukehren.
Wenn es nicht so lächerlich ausgesehen wäre, hätte sie die Lippen zu einem Lächeln verzogen.
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Von Zeit zu Zeit verlässt sie an Sonntagen das Haus, setzt eine große Sonnenbrille auf und fährt mit dem Autobus nach Jaffa, zur Kirche des heiligen Antonius. An der Seite philippinischer Arbeiter, die bis nach Tel Aviv gekommen sind, um ihren Kindern zu helfen, öffnet sie den Mund, um die Hostie zu empfangen.
Dann, wenn sie vor ihrer Ave Maria knien und um ihren Segen beten, dreht die alte Frau ihr den Rücken zu und geht.
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Eine Handvoll Freunde, alles alte Leute wie sie, werden von Sehnsucht erfüllt, wenn sie über ihre Kindheit sprechen, diesem schwer fassbaren, magischen Bereich, der immer schmeichelnder wird, je weiter er sich entfernt. Sie lassen sich davontragen, und die alte Frau lächelt. Ihr Lächeln erlaubt ihren wenigen Freunden zu glauben, dass die Geschichte der alten Frau die Annahmen rechtfertigt, die sie aus ihren eigenen Kindheitsgeschichten ziehen.
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Ein anderer Geschichtenerzähler – weniger betroffen, mit mehr Abstand –, wäre ausführlicher auf die anderen Protagonisten eingegangen, hätte ihnen den Weg gebahnt und ihnen den Raum gegeben, den sie verdienen.
Zum Beispiel wäre es möglich gewesen, in die Haut der Ratte zu schlüpfen.
Die alte Frau macht sich Sorgen darüber, ob die Geschichten zuverlässig sind.
In einer Welt, in der die Wege in die Irre führen, in der es kein Früher oder Später gibt, darf man mögliche Veränderungen und Wandlungen nicht außer Acht lassen. Was der nächste Erzähler hinzufügen könnte, beunruhigt sie mehr als das, was er weglässt. Dieser Stefan darf um Gottes willen nie zur Hauptfigur werden.
Zum Helden.
Nie wird der Sohn der Bauern, der den Hof und alles, was dazu gehörte, erbte, diese Geschichte erzählen. Würde man ihn danach fragen, würde er alles ableugnen. In den Herbstnächten sitzt er mit den Kindern zusammen, die Janka oder eine andere Frau ihm geboren hat, und erzählt von früher. Es war einmal in einem kleinen Dorf in Europa.
Das ist es, was der alte Mann erzählt.
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Ihren Namen sprach sie nie aus, dort, in der Dunkelheit, kein einziges Mal. Sie durfte ihn nicht aussprechen, denn hätte sie gesagt, wie sie hieß, wäre das ihr Ende gewesen. Vielleicht kann sie ihn deshalb auch jetzt, so viele Jahre danach, nicht aussprechen.
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Sie wird die Geschichte nie wieder erzählen, weder ganz noch in Teilen. Das ist das erste und das letzte Mal. Wenn jemals eine andere Version erzählt werden wird, wird der zukünftige Geschichtenerzähler die Zeitkapseln öffnen und ihren Inhalt bloßlegen müssen. Doch das wird nicht geschehen. Die Geschichte in ihre Einzelteile zu zerlegen und unter einem Vergrößerungsglas zu betrachten ist nicht die Aufgabe des Erzählers, sondern des Zuhörers. Ihm gehört die Geschichte von diesem Moment an. Ob er will oder nicht – er ist der zukünftige Erzähler. Und im Fall der Enkelin wird die Konzentration auf ein Detail der Geschichte – besonders auf diesen Stefan – die Geschichte für immer begraben.
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Für einen Moment hat die alte Frau das Gefühl, dass sie die Geschichte nicht erzählt hat, sondern sich nur vorgestellt hat, sie zu erzählen, und noch bevor die Enkelin aufsteht, um zu gehen, ergreift sie ein unbändiges Verlangen, es noch einmal zu versuchen, die Geschichte glatter zu erzählen, in einer Art, die von vornherein alles enthält, was das kleine Mädchen, das sich im Erdloch zusammenkauert, weiß.
Lohnt es sich überhaupt, die Geschichte zu erzählen? Ist es überhaupt möglich, sie anders zu erzählen? Denn egal, auf welche Art sie erzählt wird, das Gerüst wird bleiben. Die Dunkelheit wird dunkel sein, die Ratte eine Ratte.
Und dieser Stefan Stefan.
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Als die Mutter der Enkelin das Haus betrat, hörte die Geschichte auf. Die Enkelin bestand darauf, zu bleiben, genau genommen schickte sie ihre Mutter weg. Dennoch blieben die Spuren der Tochter im Raum, folgten der Geschichte, ohne dass sie anwesend war.
Zu einem anderen Zeitpunkt, so spät wie möglich, wird die Enkelin die Geschichte neu zusammenstellen. Das Gerüst wird bleiben, die Wand, aber das Haus wird ein anderes sein.
Wieder lächelt die alte Frau.
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Sie empfindet eine besondere Zuneigung zu den Tieren der Nacht. In den Sommernächten verlässt sie heimlich das Haus, kriecht auf allen Vieren, sucht nach Schnecken.
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