schon zu weit oben war, und in dieser Angst und dieser Dunkelheit spürte ich irgendwie, dass es außerhalb meines Körpers Licht gab. Vielleicht bin ich deshalb nicht hingefallen.
Warum hatte die Ratte gelacht?
Mir kam es vor, als rolle dieses Lachen die Treppe hinunter.
Bis zum Luftschutzkeller.
Ich habe eine Frage an dich, Miri. Vielleicht weißt du, was ein Stasch ist?
Hast du das Wort Stasch schon einmal gehört? Mir sagt es nichts, obwohl es so eine Art Echo gibt. Als hätte ich es oft gehört und würde mich einfach nicht erinnern.
Ich sage dir die Wahrheit, mir kam es vor, als hätte ich »Stasch« im Treppenhaus gehört, aber ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob es die Stimme meiner Großmutter war, denn sie war oben und ich war unten, ich hätte es auf diese Entfernung doch gar nicht hören können, oder? Vielleicht war es nur in meiner Einbildung, weißt du, vor lauter Panik.
Ihre Tür im dritten Stock stand offen, von dort fiel Licht heraus. Schwach, blass, zittrig, aber trotzdem Licht.
Sie stand auf der Schwelle und ich sah ihr Gesicht nicht, weil ich davon, dass ich meine Augen plötzlich aufriss, geblendet war. Nun hatten sie sich ohne Schwierigkeiten aufmachen lassen, als wären sie überhaupt nicht fest geschlossen gewesen.
Oma, sagte ich, Oma, und dieser Name kam mir echt vor, vielleicht sogar zu echt.
Oma, gib mir die Hand. Ich sehe dich nicht.
Dann umarmte ich sie, und ich fühlte, dass sie mich auch umarmte, und ihr Gesicht war ganz nah.
Und dann fuhr mir ein seltsamer Gedanke durch den Kopf. Stefan die Ratte. So nannte ich sie. Verstehst du, Miri, ich fand … so etwas Trost … ich war so glücklich, dass es in ihrem Erdloch etwas Menschliches gegeben hatte.
Dritter Teil
Die Gedichte
Von:
[email protected] Gesendet: Donnerstag, 31. Dezember 2009, 5:48
An:
[email protected] Betreff: RE: death&life
Hör zu, Neschama, ich bin in der Nacht auf eine Website geraten – seltsam, erschreckend, abstoßend – du musst sie dir unbedingt mal ansehen. Verrückte Gedichte, die überhaupt nichts mit der Realität zu tun haben, zumindest nicht mit der, die wir kennen. Ich weiß nicht, wer sie gemacht hat, und warum, und vielleicht ist das überhaupt nicht wichtig.
Diese Gedichte – oder vielleicht sind es verzerrte Worte – erschienen plötzlich, während ich durch die Seiten von Haustieren surfte, und das passiert mir immer, dass ich ganz zufällig auf die wichtigsten Dinge stoße. Erst wollte ich nicht, ich habe sogar versucht rauszukommen, aber es war stärker als ich, und plötzlich fand ich mich mitten drin. Dann, aus lauter Neugier, versuchte ich herauszufinden, wer hinter dem Mädchen und der Ratte steckt, aber es gelang mir nicht. Vielleicht kannst du das Rätsel knacken, schließlich bist du von uns beiden der richtige Hacker.
Die Gedichte sind in Hebräisch, aber in lateinischen Buchstaben, von links nach rechts, und achte darauf, dass sich diese Ordnung ständig ändert, nur das letzte Gedicht ist immer das letzte. Ich habe sie für dich übersetzt, obwohl ich sicher bin, dass du alles auch ohne meine Hilfe verstehst.
Der Schreiber, der vielleicht auch eine Schreiberin ist, zerlegt die Welt in die grundlegendsten Begriffe und kehrt sie um. Du wirst es merken – das Innerste ist nach außen gestülpt.
Und es gibt kein Zurück.
Jetzt stecken das Mädchen und die Ratte tief in mir drin, und ich weiß, dass ich mich nicht mehr von ihnen befreien kann. Ich konnte auch nichts essen und nichts trinken, seit ich hineingeraten bin. Den ganzen Tag saß ich vor dem PC und schickte sie an mein gesamtes Adressbuch. Ich möchte, dass auch du, nachdem du drin warst, die Gedichte an dein eigenes Adressbuch mailst.
Ich glaube, so viele Leute wie möglich sollten umgedreht werden.
Es ist sehr leicht, auf die Seite zu gelangen. Hier ist die Adresse:
www.mädchen&ratte.com
Und schon bist du drin.
Ich habe nachgedacht und hatte eine Idee, wie man dieses Material so schnell wie möglich an möglichst viele Leute verschicken kann. Du kennst doch bestimmt diese »Kettenbriefe«, die dir von allen möglichen unbekannten Typen geschickt werden, du drückst dann sofort auf Löschen. Meine Großmutter hat mir erzählt, als sie klein war, im letzten Jahrhundert, hat man diese Sachen mit der normalen Post geschickt und oben drüber und unten drunter eine Warnung geschrieben: »Wenn du es deinerseits nicht weiterschickst, wird dir ein schlimmes Schicksal zustoßen.«
Du musst