UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
so harmlos war, warum hast du Grandpa dann nicht um Erlaubnis gefragt?“
„Er meinte, es wäre okay.“
Rosa nahm den Fuß ein wenig vom Gas und sah ihn an. „Das hat er mir nicht erzählt.“
„Wahrscheinlich hat er es vergessen“, platzte es aus Joey heraus. „So wie er eben alles vergisst.“
Sie stieg voll auf die Bremse und blieb mitten auf der menschenleeren Straße stehen. „Was, zum Teufel, willst du damit sagen?“
Im gelben Licht der Straßenbeleuchtung sah Joey, dass in ihren Augen nicht nur Wut funkelte. Da war noch etwas anderes. So etwas wie … Angst. Das hieß, dass er ihr die Wahrheit schonend beibringen musste. Denn auch ihn selbst würde es furchtbar erschrecken, wenn ihm jemand eröffnete, sein eigener Dad wäre geistig nicht mehr ganz fit im Kopf. Man durfte nicht vergessen, dass es Rosas Vater war, um den es hier ging.
„Joey?“
Er räusperte sich. „Grandpa vergisst sehr viel“, sagte er leise.
„Das tut doch jeder“, erwiderte Rosa. „Ich habe den Geburtstag deiner Mutter letzten Monat vergessen und ihr noch immer keine Karte geschickt.“
Jetzt tat sie ihm richtig leid. Sie konnte offensichtlich nicht glauben, wie es um Grandpa stand, also versuchte sie, es zu verharmlosen. Er hatte das übrigens anfangs auch getan. Grandpa war taub, also konnte er schon mal vergessen, den Wasserhahn abzudrehen, seinen elektrischen Rasierapparat auszuschalten oder die Post zu holen, nachdem sie durch den Briefschlitz in den Vorraum gefallen war. Joey fragte sich, wie viel Tante Rosa davon mitbekommen hatte.
„Diese Art von Vergessen meine ich nicht“, sagte er. „Ich rede davon, dass er fast alles vergisst. Es passiert ständig. Er hat zum Beispiel den Motor des Pick-up laufen lassen, bis kein Benzin mehr im Tank war. Er hat Bohnen gekocht und vergessen, die Herdplatte auszuschalten. Im Haus hat es noch Stunden danach gestunken, und an der Küchendecke ist jetzt ein großer dunkler Fleck. Alles, was ich ihm sage, muss ich Hundert Mal wiederholen. Außerdem nennt er mich ziemlich oft Roberto, und wenn ich ihn korrigiere, ist er beleidigt.“
Rosa blinzelte ganz schnell, als müsste sie mit den Tränen kämpfen. Oh Mann, dachte Joey. Nicht schon wieder ein weibliches Wesen, das weint. Glücklicherweise konnte Rosa sich beherrschen. „Hast du versucht, mit Grandpa darüber zu reden?“
„Sehr oft sogar. Aber er will nichts davon hören. Alex meint …“
„Moment mal, Freundchen.“ Von drohenden Tränen konnte jetzt keine Rede mehr sein. Wahrscheinlich waren sie verdampft, denn Tante Rosa kochte nun vor Wut. „Du hast mit Alex darüber geredet?“
„Vielleicht habe ich es ihm gegenüber mal erwähnt, ja“, gab Joey leise zu. „Ich habe es nicht für ein großes Geheimnis gehalten. Außerdem habe ich ganz fürchterlich nach verbrannten Bohnen gestunken, und als ich bei Alex war und er mich gefragt hat …“
„Du warst bei Alex?“
Es wurde immer schlimmer. „Er wollte mir ein paar Bücher über Astronomie borgen. Was dagegen? Wir leben doch in einem freien Land, oder?“
„Aha, du hast es also Alex erzählt, aber mir nicht“, empörte sich Tante Rosa. „Vielleicht solltest du gleich eine Pressekonferenz zu dem Thema einberufen. Hast du es auch mit deinen Eltern besprochen?“
„Nein, Dad hätte wahrscheinlich genauso reagiert wie du.“
„Was meinst du mit reagiert? Wie reagiere ich denn?“
„Laut“, sagte Joey.
In einem der Häuser neben der Straße ging das Licht an, und man sah, wie sich ein Vorhang bewegte. Rosa legte den Gang ein und fuhr los. Auf der ganzen Fahrt zur Prospect Street sagte sie kein einziges Wort mehr.
34. KAPITEL
Linda streifte sich ein Paar Gummihandschuhe über. „Na, dann legen wir mal los.“
Rosa sah sich im Haus ihres Vaters um und verzog das Gesicht. „Jetzt weiß ich, wie sich Herkules gefühlt hat, als er die Ställe des Augias gesehen hat.“
„Ach, so schlimm ist es nun auch wieder nicht.“
„Doch. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du mir freiwillig helfen willst.“
„Hey, wozu hat man denn Freunde?“ Linda griff nach einer Flasche „Windex“-Reiniger.
„Wahrscheinlich nicht dafür, dass sie die Küchendecke meines Vaters schrubben, aber ich bin trotzdem froh, dass du da bist.“
„Das mache ich doch gerne, Rosa“, versicherte ihr Linda. „Du hast mir auch schon oft aus der Klemme geholfen. Hast du einen Arzttermin für ihn vereinbaren können?“
„Sie nehmen uns um elf Uhr dran.“ Um sich
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