UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
ihre Besorgnis nicht anmerken zu lassen, drehte Rosa sich um und schaltete das alte Radio ein, das seit Jahrzehnten auf demselben Platz im Regal stand. Sie drehte am Knopf, und nach kurzem Rauschen hatte sie einen Sender gefunden, auf dem gerade „Belle and Sebastian“ zu hören waren. Dann machte sie sich an die Arbeit.
Als Erstes ging sie ins Wohnzimmer und sah sich um. Sie besuchte ihren Vater oft, und seine Unordnung war ihr immer aufgefallen, doch nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, dass Paps ernsthaft Probleme haben könnte. Auch als sein Durcheinander mit der Zeit immer größere Ausmaße angenommen hatte, hatte sie sich nichts dabei gedacht. Jetzt allerdings hätte sie am liebsten losgeheult, doch sie erlaubte es sich nicht.
Jetzt halfen keine Tränen mehr. Sie war eine schlechte Tochter, das stand auf alle Fälle fest.
In den letzten 24 Stunden, seit Joey sozusagen den Kaiser als nackt geoutet hatte und Rosa nicht länger leugnen konnte, wie es um ihren Vater stand, hatte sie der Wahrheit ins Auge sehen müssen. Paps hatte Probleme, und sie selbst hatte es nicht wahrhaben wollen. Sie war mit dem Restaurant und ihrem eigenen Leben so beschäftigt gewesen, dass ihr nicht aufgefallen war, was direkt vor ihrer Nase passierte.
Sie hatte nicht mit ihm darüber geredet. Noch nicht. Heute Morgen war sie einfach zu ihm gefahren und hatte ihm mitgeteilt, dass sie sauber machen und ein paar Dinge ausmisten würde. Er hatte genickt und sonst keinerlei Reaktion gezeigt. Linda hatte darauf bestanden, ihr zu helfen. Rosa wusste, dass sie den Reinigungstrupp aus dem „Celesta’s“ hätte herschicken können, doch sie hatte es sich anders überlegt: Dies hier war ihre Strafe.
Sie hatte sich den ganzen Tag und auch den Abend freigenommen und Vince die Verantwortung für das Restaurant überlassen. Es war im Laufe der Jahre vermutlich erst das dritte Mal, dass sie nicht persönlich im „Celesta’s“ anwesend war. Joey war bei der Arbeit und Paps im Garten, wo die Tomaten schon reif wurden und die Dahlien gerade zu blühen begannen. Von Zeit zu Zeit sah Rosa aus dem Fenster. Beim Anblick ihres Vaters, der sich gerade eine Blume abschnitt und sie sich dann an seine Kappe steckte, zog sich ihr das Herz zusammen. Er war alles für sie, und sie hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen.
Eine ganze Stunde verbrachte sie allein damit, alten Kram wegzuwerfen – Werbematerial, Verpackungsmüll, Plastiktüten, die er aus nicht nachvollziehbaren Gründen zu horten schien, rostige Büroklammern und Reißzwecken, leere Einmachgläser …
Der Schreibtisch war überhäuft mit Bergen von alten Zeitungen und noch mehr Werbung, doch Rosa fand auch Stöße mit ungeöffneten Briefen von der Bank, persönliche Korrespondenz und … Rechnungen. Stromrechnungen, Gasrechnungen, Mahnungen. Manche Schreiben trugen den Stempel „Letzte Mahnung“.
Ihr erster Impuls war, die Rechnungen sofort zu bezahlen. Doch dadurch ließ sich das eigentliche Problem nicht lösen. Denn das lag tiefer. Auf dem Weg durch den Flur in den Garten fiel ihr auf, dass Linda die Küche bereits auf Hochglanz gebracht hatte und nun den dunklen Fleck an der Decke mit Grundierung überpinselte. Draußen zeigte sie ihrem Vater die Briefe. „Paps“, sagte sie, „du hast vergessen, deine Rechnungen zu bezahlen.“
Er sah kurz auf einen der Umschläge, dessen Poststempel zeigte, dass er vor sechs Wochen aufgegeben worden war. „Leg sie wieder auf den Schreibtisch. Ich kümmere mich am Abend darum.“
„Sie waren auf dem Schreibtisch, Paps, und langsam mache ich mir wirklich Sorgen um dich. Du vergisst anscheinend sehr viel.“
„Was soll das heißen, ich vergesse viel?“ Er machte eine abfällige Handbewegung. „Ich hatte einfach viel zu tun.“
„Aber Paps …“ Rosa brach ab und sah auf ihre Armbanduhr. „Wir haben keine Zeit, uns zu streiten. Wir müssen zu unserem Termin.“
„Zu welchem Termin? Ich habe keine Termine.“
„Doch, hast du. Und zwar um elf Uhr. Dr. Chandler sagt, du bist seit drei Jahren nicht mehr bei ihm gewesen. Drei Jahre, Paps! Das ist doch nicht normal.“
„Er verlangt 150 Dollar, sobald man nur den Fuß in seine Praxis setzt. Außerdem geht es mir gut. Ich brauche keinen Arzt.“
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „ Bitte .Tu es mir zuliebe. Dann hast du bald wieder deine Ruhe vor mir.“
Er sah sie wütend an, und einen Moment lang hatte Rosa Angst, dass er sich weigern würde. Dann wurde sein Blick sanfter. „Du
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