UND ES WAR SOMMER - Wiggs, S: UND ES WAR SOMMER
nicht will, dass jemand an seiner Integrität zweifelt. Wenn ihm etwas passiert … wenn er nicht …“ Ginas Stimme brach. Sie starrte auf den Boden und wischte sich über die Augen. „Ich glaube einfach, dass es ihm wichtig wäre, dass Sie die Wahrheit kennen, aber er ist zu sehr Ehrenmann, um es Ihnen selbst zu sagen.“
Stunden später, als die meisten Leute wieder nach Hause gegangen waren, entdeckte Rosa Mr. Montgomery in dem Kiosk am Ende des Flurs. Er starrte abwesend auf das letzte übrig gebliebene Exemplar einer Wirtschaftszeitung. Sie straffte die Schultern und ging zu ihm.
„Mr. Montgomery?“ Sie war selbst überrascht, wie zögerlich sie klang.
Er steckte die Zeitung zurück in den Ständer und drehte sich abrupt zu ihr. „Ja?“
„Ich bin Rosa …“
„Ich weiß, wer Sie sind.“
Sie atmete tief durch. In all den Jahren, in denen sie mit Alex befreundet war, hatte es zwischen ihr und Mr. Montgomery nie ein richtiges Gespräch gegeben. Jetzt wusste sie, warum. Er war ein sehr Respekt einflößender Mann. „Sir, ich möchte Ihnen sagen, wie dankbar meine Familie Alex ist.“
„Ich bin überzeugt, dass Sie alle ihm außerordentlich dankbar sind.“
„Und ich warte hier schon den ganzen Tag, um zu erfahren, wie es ihm geht. Ich weiß, dass ich nicht zur Familie gehöre, aber ich …“ Sie atmete noch einmal tief durch. „Ich gehe nicht weg, bevor ich nicht weiß, wie es ihm geht.“
Er betrachtete sie, als wäre sie ein zu groß geratenes Labortier. Rosa fiel auf, wie ähnlich er Alex sah. Beide hatten die gleichen ausgeprägten Wangenknochen, die gleichen blauen Augen und breiten Schultern und dichtes, helles Haar. Und doch war es das Gesicht eines Fremden – eines missbilligenden Fremden –, in das sie blickte. Sie merkte, wie sehr sie sich plötzlich wünschte, nicht ausgerechnet in diesen engen roten Hosen, dem getupften Top und den roten, hochhackigen Sandalen vor ihm zu stehen.
Ohne den Blick von ihr zu wenden, nahm er seinen Aktenkoffer und ging in Richtung Krankenhausausgang. „Kommen Sie mit“, sagte er.
Draußen holte er eine Zigarre aus seinem Jackett. Rosa ging ihm bis zu dem großen, mit Sand gefüllten Aschenbecher nach, neben dem einige Leute – mit sichtlich schlechtem Gewissen – Zigaretten rauchten. Mr. Montgomery zündete sich, ohne eine Miene zu verziehen, seine Zigarre an.
„Er hatte einen schweren Asthmaanfall, vermutlich ausgelöst durch den Rauch, den er eingeatmet hat. Im Zuge dessen hat er das Bewusstsein verloren, ist vom Dach gefallen und hatte einen Herzstillstand. Außerdem sind ein paar Rippen gebrochen. Was den Ärzten allerdings die größte Sorge macht, ist die Gehirnblutung. Wenn er nicht wieder zu Bewusstsein kommt …“
Der Aktenkoffer fiel ihm aus der Hand und sprang auf. Einige Mappen lagen verstreut auf dem Boden, doch Mr. Montgomery schien es nicht einmal zu bemerken. Rosa hockte sich hin und sammelte die Mappen ein.
„Ich mache das schon“, sagte er schnell, bückte sich wie ein junger Mann und stopfte die herausgefallenen Zettel und Fotografien eilig wieder in den Koffer.
Doch Rosa hatte es bereits gesehen. Ein Schreiben mit dem Briefkopf des Sheriffs. Außerdem ein paar unscharfe Farbfotos. Nahaufnahmen. Sie brannte darauf, zu erfahren, was es damit auf sich hatte, doch es war unmöglich, sich zu erkundigen, wenn sie nicht als hoffnungslos neugierig vor Alex’Vater dastehen wollte.
Er ließ den Aktenkoffer zuschnappen. „Die Ärzte haben mir geraten, alle Verwandten zu verständigen. Das kann nichts Gutes bedeuten.“
Er sank auf die Holzbank und barg sein Gesicht in den Händen. Die Zigarre zwischen seinen Fingern schien vergessen.
„Kann ich irgendetwas für Sie tun?“, fragte Rosa. Sie bemühte sich, angesichts seiner Verzweiflung nicht in Panik auszubrechen. „Ist Gina noch hier?“
„Nein, ich habe ihr gesagt, dass ich sie auf dem Laufenden halte.“
„Soll ich Ihre Tochter für Sie anrufen?“
„Sie ist auf Reisen und hat keinen Handy-Empfang. Ich habe ihr schon eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen und eine E-Mail geschickt.“
Rosa hatte plötzlich das Bedürfnis, ihn zu umarmen oder ihm wenigstens die Hand auf die Schulter zu legen. Doch sie traute sich nicht. Vor ihr saß ein Mann, der ganz allein war – die Ehefrau gestorben, seine Tochter weit weg, sein Sohn an Maschinen angeschlossen.
Sie setzte sich neben ihn, nahm ihm die Zigarre aus der Hand und steckte sie im Aschenbecher in den Sand. Dann
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