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Und fuehre uns in die Versuchung

Und fuehre uns in die Versuchung

Titel: Und fuehre uns in die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria G. Noel , Runa Winacht
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Sandizell.“
    „Macht Ihr nur“, murmelte der. „Ich bin nicht so gut in Latein.“
    Und schon fand sich Mathilda im Korridor wieder.
    „Tut mir leid, dass ich Euch eine Anklage nicht ersparen kann. Hoffentlich fällt die Strafe nicht zu hart aus“, murmelte Pater Heussgen, während er ihr vorauseilte, auf die Treppe zur Bibliothek zu. „Kommt, lasst uns ein wenig Abstand zu eventuell gespitzten Ohren schaffen.“
    „Wo ist er?“, fragte Mathilda, kaum dass sie das Ende der Treppe erreicht hatten.
    „Erst in die Unterrichtsstube.“
    Seine Stimme klang ein wenig hektisch. Er warf einen langen Blick zurück, ehe er die Türe mit Nachdruck hinter sich schloss.
    „Verreist“, beantwortete er dann sofort ihre Frage. „Aber keine Angst“, fuhr er fort, als sie angstvoll die Luft einsog, „er wird wiederkommen.“
    „Hat er das gesagt?“ In Mathilda war nur noch Eis. Arno war weg – abgereist! Das Schlimmste, das Allerschlimmste war somit geschehen. Er hatte sie verlassen.
    „Ihr habt ihn doch gehört“, fuhr er fort. „Er muss zu einer Entscheidung gelangen.“
    „Gegen mich“, sagte Mathilda bitter. „Diese Entscheidung hat er doch schon getroffen.“
    „Nicht gegen Euch“, schüttelte Heussgen den Kopf. „Für oder gegen seinen Gott und für oder gegen das, was er bisher als seine Berufung angesehen hat.“
    Da war sie wieder, die ärgste aller Sorgen. Mathilda nickte. „Ich verstehe.“
    „Was versteht Ihr?“, hakte Heussgen nach.
    „Alles - oder ich“, antwortete Mathilda bitter. „Alles müsste er aufgeben, was für ihn wichtig ist. Und das ist eine Entscheidung, die er nie und nimmer treffen kann.“
    „Nicht alles“, widersprach Heussgen sofort. „Es ist richtig, er müsste viel aufgeben, aber er würde doch Neues gewinnen.“
    „Sieht er das so?“
    „Er ringt darum“, seufzte Heussgen. „Mehr kann ich Euch dazu auch nicht sagen. Aber ich bin sicher, er kommt zurück.“
    Mathilda ließ sich auf ihren Platz sinken und legte ihr Gesicht in die Hände. Doch ehe sie ihren Tränen freien Lauf ließ, musste sie noch eines sagen. Deswegen hob sie noch einmal den Kopf: „Ihr täuscht Euch. Arno wird sich niemals für mich oder irgendeine andere Weltlichkeit entscheiden. Er und sein Leben gehören allein Gott.“
    „Was in keinerlei Widerspruch zu Euch steht“, erwiderte Heussgen sanft. „Habt Mut. Es sind stürmische Zeiten, aber auch die werden vergehen.“
    Doch da konnte Mathilda schon nicht mehr. Sie legte ihren Kopf auf die Arme und schluchzte.
    „Ich muss wieder hinauf, ehe jemand Verdacht schöpft, dass es hier um etwas anderes als Latein gegangen ist“, hörte sie Heussgens Stimme jenseits ihrer Verzweiflung. „Aber ich sorge dafür, dass Euch heute hier niemand stören wird. Ihr habt also Zeit, Euch wieder zu fassen.“
    Er war schon fast zur Türe hinaus, als Mathilda jäh den Kopf hob: „Wann wird er zurück sein?“
    „Eine Woche, zwei ... Genau weiß ich es auch nicht“, antwortete Heussgen, lächelte sie aufmunternd an – und verschwand.

Montag, 16. Januar 1522
    Sieben Mal am Tag
     
    Diese geheiligte Zahl Sieben wird von uns erfüllt, indem wir unsere Dienste, die wir schuldig sind, ableisten zu der Zeit von Laudes, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper und Komplet. Denn von diesen täglichen Stunden heißt es: Sieben Mal am Tag singe ich Dir Lob.
    Aus den Regeln des Heiligen Benedikt von Nursia
     
     
    Unerträglich! Mathilda verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein und versuchte, sich auf die Heilige Messe, die im fernen Männerchor zelebriert wurde und von hier aus lediglich zu hören war, zu konzentrieren. Heute war alles wie jeden Tag, die Gesänge sogar ganz besonders schön. An das ewige Knien und Stehen hatte sie sich doch auch längst gewöhnt.
    Alles war wie immer.
    Nur dass es 'immer' ist. Und 'alles'.
    Noch nie war ihr derart glasklar bewusst gewesen, dass genau dies hier ihr Leben bedeutete – bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus.
    Sie sah auf ihre glatten Finger hinab, die sie vor dem Skapulier zum Gebet aneinandergelegt hatte, sah sie altern, sich krümmen, Schwielen und Runzeln bekommen, langsam und unaufhaltsam.
    Dabei hatte sie die fromm erhobenen Hände ihrer Mitnonnen vor Augen, von den Jahren knotig und faltig geworden. Auch gebeugte Nacken sah sie, die sich vom vielen vornübergeneigten Beten nicht mehr hoch aufrichten ließen, seltsam gewölbte Skapuliere, wo sich unter den Kutten im Rücken der Nonnen kleine Buckel abzeichneten.

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