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Und fuehre uns in die Versuchung

Und fuehre uns in die Versuchung

Titel: Und fuehre uns in die Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria G. Noel , Runa Winacht
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kam sie zurück in die kalte Realität, kniete sich auf eisige Steinfliesen und betete mit demutsvoll geneigtem Kopf. Nicht anecken, nicht auffallen. Alles mitmachen, nur nicht zeigen, wie es in ihr aussah. Das ging niemanden etwas an.
    Gleich nach der Hore sank sie wieder in ihre Phantasien – aus denen sie wiederum gerissen werden musste:
    „Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“, fragte Schwester Gensstallerin. „Reagierst nicht, wenn du gerufen wirst. Es ist Essenszeit.“
    Essen ging so. Immerhin konnte sie sich mit Katharina per Handzeichen verständigen. Aber als die Rekreation begann, stand sie auf und ging zu Mutter Örtlerin: „Ich sehne mich nach Stille und Andacht. Darf ich bis Sexta schon hinauf, in den Frauenchor?“
    Die Äbtissin stutzte bei ihrer Frage und musterte sie erstaunt, nickte aber schließlich. „Gewiss, Kind. Geh beten, wenn dir nicht nach Gesellschaft ist.“
    Dankbar huschte Mathilda aus dem Saal, ignorierte dabei Katharinas Augen, die ihr verwundert folgten – und schloss die Türe hinter sich. Sie wollte wieder träumen. Sich in eine stille Ecke setzen und ihren Gedanken nachhängen. So wie während der Arbeit. Anders, das fühlte sie überdeutlich, würde sie dieses Leben nicht ertragen können.
    Noch immer kam es ihr seltsam vor, dass der Sarg mit Schwester Glaubrechtin verschwunden war, dass keine Kerzen mehr dort brannten – auch wenn Mathilda sich nicht des Gefühls erwehren konnte, dass dies aber so sein sollte.
    Der Frauenchor war vollständig leer. Sie setzte sich – zum allerersten Mal – ins Chorgestühl und ließ ihren Blick von dort über den Altar gleiten, über das Kreuz, den Schrein darunter, der, wie sie inzwischen wusste, die Hirnschale Altos und sein Messer enthielt, mit dem er das Rodungswunder bewirkt hatte. Diese Reliquienschätze würden am neunten Februar, dem Festtag des Heiligen Altos, hervorgeholt – und mit ihnen die heilige Messe zelebriert werden, wobei die Hirnschale den Kelch ersetzen würde. Diese Vorstellung brachte Mathilda immer wieder zum Erschauern. Heidnisch mutete ihr dieses Ritual an.
    Aber darüber, wie eigenartig ihr die Gepflogenheiten der Kirche in manchen Dingen erschienen, wollte sie jetzt wirklich nicht nachdenken. Lieber wieder in den Sommer mit Arno abdriften, in eine Welt, in der sie weder einsam und verlassen war noch frieren musste. Sie rückte sich ein wenig zurecht, schlang ihren Mantel fester um sich und schloss die Augen. Schwacher Weihrauchgeruch erreichte ihre Nase und ihr kam die gestrige Prozession wieder in den Sinn. Sie schnupperte – und roch Holz, Kerzen und Staub. Nichts hier erinnerte an Arno – und so mühte sie sich vergebens, sein Bild vor die Augen zu bekommen.
    Alles, was sie fühlte, war die große Wunde, in die sich ihr Herz verwandelt hatte, und der Schmerz, den diese Wunde verursachte.
    Mathilda legte beide Hände auf ihre Brust. Zu eng. Genau wie der Raum. Hier bekam sie einfach keine Luft. Der Frauenchor, so groß er auch war, er war zu eng für sie. Unerträglich. Sie musste sich bewegen.
    Rasch stand sie auf, machte ein paar Schritte, verhielt jedoch an der Stelle, wo der Sarg aufgebaut gewesen war. So seltsam es klang, der Anblick der toten Glaubrechtin hatte ihr Frieden geschenkt.
    Voller Unwillen schüttelte sie den Kopf. Sie wurde schon genauso makaber wie die anderen. Eindeutig, das Nonnendasein färbte auf sie ab.
    Schnell verließ sie den Frauenchor und ging zum Balkon der Laienschwestern. Hier war sie nur ein einziges Mal gewesen, in vollständiger Dunkelheit, lediglich die Totenkerze in der Hand.
    Jetzt war es heller Tag. Mathilda trat nach vorn, zur Brüstung. Gleißende Lichtstrahlen, in denen der Staub sachte wirbelte, drangen durch die Fensterscheiben herein. Draußen schien also die Sonne. Aber das war egal. Die betrübte Düsternis der Kirche entsprach Mathildas Zustand viel eher, als glasklares, wenn auch eiskaltes Sonnenlicht. Verloren starrte sie auf den von hier aus deutlich zu erkennenden Männerchor. Hier war sie Arno näher, also würde sie auch bleiben. Sie musste nur darauf achten, rechtzeitig vor Sexta zurück im Frauenchor zu sein.
    Fast von alleine öffneten sich ihre Lippen:
     
    „Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue? Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott?
     
    Mathilda schluchzte. Auch ihre Seele dürstete. Sehr sogar.
    Sie

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