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Und fuehre uns in die Versuchung

Und fuehre uns in die Versuchung

Titel: Und fuehre uns in die Versuchung
Autoren: Maria G. Noel , Runa Winacht
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betrachtete Mathilda die großen Tische, an denen gearbeitet wurde. Sie waren übersät mit Schälchen voller Perlen, Fäden, Nadeln und Scheren. Wegen des benötigten Lichts standen sie direkt an den großen Fenstern. „Im Moment wird an einem Reliquiengewand gearbeitet, einer Bestellung für eine Kirche in Rom“, erklärte Schwester Jordanin und wies auf einen Ballen feinen, durchsichtig scheinenden Stoffes.  
    Mathilda ließ sich erklären, dass die Skelette Heiliger damit fein umhüllt und so in gläsernen Särgen ausgestellt würden. Auch wenn sie die Arbeiten an sich sehr fein fand, bei dem Gedanken, dass die zierlichen Hüllen blanke Menschenknochen bedecken sollten, gruselte sie sich.
    Nebenan wurde zu Mathildas Überraschung gemalt. Zwei Chorfrauen saßen mit haarfeinen Pinseln über kleine und winzige Heiligenbildchen gebeugt.
    „Auch das sind Auftragsarbeiten“, erklärte Schwester Jordanin. „Mal sehen, wie du dich in diesem Bereich machst. Es besteht immer Bedarf an Künstlerinnen.“
    Mathilda hätte gleich sagen können, dass sie das ganz gewiss nicht war. Ihre Malereien hatten sich immer auf kindlichen Unfug beschränkt und ihre Stickereien waren als solche kaum zu bezeichnen gewesen.
    Zu ihrer Erleichterung läutete es da auch schon zum Mittagessen. Die Nonnen verließen ihren Arbeitsplatz, um sich gemeinsam mit Schwester Jordanin und Mathilda ins Refektorium zu begeben. Dort eilte jede auf ihren Platz.
    An das Mittagessen würde sich die Erholungszeit anschließen, die auch hier verbracht wurde.
     
    Erst nach der im Frauenchor gesungenen und gebeteten Sext, der vierten Gebetsstunde des Tages, kam Schwester Jordanin wieder auf Mathilda zu.
    „Jetzt bringe ich dich noch zur Ausbildung“, sagte sie knapp, wandte sich dann bereits ab und lief eiligen Schrittes voraus.
    Die Zeit der freundlichen Gespräche schien also vorüber zu sein. Mathilda folgte ihr wortlos.
    „Konzentriere dich jetzt“, sagte Schwester Jordanin schließlich. „Morgen gehst du hier alleine.“
    Mathilda erkannte es sofort, es war der gleiche verwirrende Weg wie gestern nach der Beichte. „Gehen wir zum Ausgang?“, sagte sie laut. Ziemlich aufgeregt fragte sie sich, ob man sie wirklich aus dem Kloster hinauslassen würde.
    „Bibliothek und Skriptorium sind drüben auf der anderen Seite der Kirche, beim Männerkonvent“, war die Antwort. „Wir müssen hinaus, ja.“
    Dieselbe Laienschwester, die Mathilda am Vortag eingelassen hatte, öffnete nun auf ein Zuwinken von Schwester Jordanin hin die große Klostertüre.
    Mathilda wurde bei ihrem ersten Schritt hinaus in die Sonne heftig an ihre Gefühle vom Vortag erinnert, an ihre Mutlosigkeit und die verzweifelte Endgültigkeit angesichts des Lebens, das ihr bevorstand.
    Darüber weiter nachzudenken hatte sie jetzt allerdings keine Zeit. Schwester Jordanin hatte sich nach rechts gewandt und ging schweigend an der Hausmauer entlang. Nur ein kurzes Stück, dann zog sie eine Türe auf, hinter der eine Treppe abwärts führte, schließlich um eine Ecke bog und in einen finsteren Gang mündete.
    Mathilda fröstelte unwillkürlich. „Wo sind wir hier?“, fragte sie und starrte zu Boden, um nicht über eine in der Dunkelheit verborgene Stufe zu fallen. Dass ihre Stimme leicht hallte, machte den Ort auch nicht gemütlicher.
    „Direkt neben der Kirche. Wir sind jetzt etwa auf Höhe des Männerchors.“ Schwester Jordanin, die unberührt von Mathildas Angst vorauseilte, deutete mit der linken Hand auf die Wand. „Der Finstere Gang ist die Verbindung der Konvente zum Friedhof, zum Haupteingang der Kirche und zur Bibliothek.“
    Es war eine unheimliche Verbindung. Dieser Gang war kaum höher als Mathilda groß – und so schmal, dass sich Entgegenkommende zwar nicht unbedingt sehen, aber sicher berühren würden, wenn sie aneinander vorbei wollten. Der Gang verlief auch nicht völlig gerade, sondern knickte plötzlich nach rechts ab, um sich aber sogleich wieder nach links, in seine ursprüngliche Richtung, zu neigen. Wenn er eng an die Kirche gebaut war und deren Form folgte, musste das die Stelle sein, wo sich die Kirche zum großen Andachtsraum hin verbreiterte. Sie würden also das Ende dieses Ganges bald erreicht haben.
    Und tatsächlich, von vorn schien jetzt ein wenig Licht herein. Als sie näher herangekommen waren, erkannte Mathilda die geschlossene Türe. Ein kleines Fenster darin erhellte den Gang hier nur wenig, aber zumindest konnte sie wieder etwas erkennen. Sie
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