Und fuehre uns in die Versuchung
sah, dass Schwester Jordanin nach der Türklinke griff. Nur einen Augenblick nach ihr trat sie aus dem unheimlichen Gang heraus in den Schatten der Kirche. Wenige Schritte weiter stand sie plötzlich mitten im Sonnenlicht und blinzelte geblendet. Schließlich erkannte sie dunkle Schemen, roch Erde und Feuchtigkeit, sah Kreuze neben sich. Sie waren auf einem Friedhof angekommen.
Schwester Jordanin lief ohne zu verweilen voraus, weiter an der Kirchenmauer entlang, um die Ecke. Mathilda beeilte sich, ihr zu folgen. Kurz vor dem im vollen Sonnenlicht liegenden Hauptportal hatte sie sie wieder eingeholt.
„Elisabeth!“
Der leise Ruf war von hinten gekommen. Er ließ Schwester Jordanin und Mathilda gleichermaßen anhalten und sich umwenden. Allerdings war niemand zu sehen. Mathilda wandte sich an ihre Begleiterin und sah sie fragend an.
„Geh alleine weiter“, sagte Schwester Jordanin und wies mit der Hand auf einen kleinen Holzvorbau neben dem Hauptportal der Kirche. „Dort hinauf. Dann bist du schon in der Bibliothek. Der Unterrichtsraum ist gleich nebenan.“ Bereits halb abgewandt verhielt sie plötzlich: „Ach, ich habe dir noch nicht gesagt, dass du keinerlei Konventsinterna weitergeben darfst. Was innerhalb des Frauenklosters geschieht, bleibt genau dort.“
Mit diesen Worten drehte sie sich endgültig um, lief zurück und war auch sogleich ums Eck verschwunden.
Mathilda blickte verdutzt auf den leeren Weg. Konventsinterna, die keinesfalls weitergegeben werden durften? Im Unterricht etwa? Etwas anderes konnte Schwester Jordanin eigentlich nicht gemeint haben. Sie zuckte mit den Achseln und ging auf die Bibliothek zu. Auch recht. Was sollte sie groß vom Frauenkonvent zu erzählen haben?
Viel interessanter war doch die Frage, wer da wohl nach Schwester Jordanin gerufen hatte? So plötzlich, wie die verschwunden war!
Andere körperliche und geistige Angelegenheiten
Arno hob den Blick von seinen Unterlagen. Die Grafentochter war pünktlich, kam früher, als er erwartet hatte. Des ungeachtet schollen ihre Schritte sehr schnell die Treppe herauf, und als sie im nächsten Moment durch die Tür trat, war sie ganz außer Atem. Sie sah sich beeindruckt um – eine so große und gut ausgestattete Bibliothek hatte auch sie, wie es schien, noch nicht gesehen.
Als Arno sie von seinem Platz im angrenzenden kleinen Unterrichtsraum aus rief, wandte sie sich, schüchtern errötend, hastig zu ihm um. Doch dann lächelte sie. Mit einer spontanen Herzlichkeit, als freute sie sich wirklich, ihn zu sehen. Man konnte gar nicht anders, als widerzulächeln. Sie errötete heftiger, in einer unwillkürlichen Geste über ihre im Nacken geflochtenen Haare fahrend. Einige widerspenstige Härchen hatten sich gelöst und kringelten sich dort. Eines behielt sie zwischen den Fingern, als sie die Hand sinken ließ. Sofort wieder zwang sich ihm die Erkenntnis auf: Dieses Mädchen ist keine Nonne.
Für den Augenblick jedoch war sie eine – und zwar eine, die den gesamten Ablauf des Klosterlebens grundlegend durcheinanderwirbelte.
Gespannt behielt Arno seine Novizen im Blick. Die beiden hatten sich heute, wie er zu seinem leisen Bedauern hatte feststellen müssen, besonders erwartungsvoll hier eingefunden. Dabei hatte Arno sie bewusst nicht von der Ankunft des Mädchens in Kenntnis gesetzt, um die spontane und unzensierte Reaktion auf die Überraschung eines weiblichen Gegenübers studieren zu können. Dass die beiden jungen Mönche trotzdem im Bilde gewesen waren, zeigte wieder, dass nicht einmal das klösterlich strukturierte Leben mit seinen ausgedehnten Arbeits- und Schweigephasen den Fluss interessanter Neuigkeiten zu hemmen vermochte.
Die Jünglinge jedenfalls blickten keineswegs verblüfft oder ungläubig, doch mit unverhohlener Neugierde auf, um ihre neue Mitschülerin in Augenschein zu nehmen.
„Ave Maria.“ Mathildas Lächeln veränderte sich nicht, als sie es an die beiden jungen Männer richtete. Und auch ihre Gesichtsfarbe blieb nun unverändert.
Hieß das, dass die beiden sie nicht nervöser machten als Arno? Wann sich das wohl ändern würde und sie die Jugend als potentielle Adresse ihrer Liebe erkannte? Überhaupt – die interessanteste Frage: Für welchen von beiden Männern würde sie sich entscheiden?
„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“, begrüßte Arno sie, nicht zu freundlich. Immerhin sollte sie zunächst ernsthaft arbeiten. „Setzt Euch hierher“, er deutete auf
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