Und fuehre uns in die Versuchung
den Türgriff in der Hand.
„Nicht so schnell. Wir müssen alles durchplanen. Immerhin müssen wir auch noch zum Haupttor. Wenn wir unbedacht handeln und im Kerker unkontrolliert Lärm machen, bleibt uns nicht genug Zeit zur Flucht. Weiß Mathilda überhaupt Bescheid?“
„Ich hole sie dann schon. Kommt endlich!“
Sie schob den Riegel zurück und –
Arno zuckte zu ihr, um zu verhindern, dass sie die Tür öffnete. „Hört Ihr das nicht? Die Glocke! Die Glocke in der Halle.“ Einer der Wächter schlug Alarm.
„Wenn alle nach unten laufen, können wir doch unbemerkt entkommen“, forderte Elisabeth.
In den umliegenden Zellen rumorte es, Türen wurden aufgerissen, Rufe laut. „Was ist passiert?“ – „Ist wieder jemand geflohen?“ – „Wo ist der Prior?“
„Wo ist Wayden?“, ließ Arno zusammenzucken. Das war Palgmacher. „Ist er es?“
„Ihr müsst Euch hier verstecken“, flüsterte er Elisabeth zu. Genau in dem Moment, als es klopfte, öffnete er die Schranktür.
„Pater Wayden?“ Sieber. Lauter klopfend jetzt. „Pater Wayden!“
Mit bleichem Gesicht kletterte Elisabeth in den Schrank.
„Ich werde jetzt rausgehen und die Kammer abschließen. Das ist sicherer, falls man sie durchsuchen will. Dann könnt Ihr herauskommen – bis Ihr wieder etwas hört.“
Sie nickte stumm, und er schloss die Schranktür hinter ihr.
„Ja“, rief er laut. „Moment!“ Sich die Haare verwuschelnd, setzte er eine 'Soeben-erwacht'-Miene auf und öffnete die Tür.
„Ich soll Euch holen.“ Sieber sah sich unsicher über seine Schulter um.
Arno schob den jüngeren Bruder aus dem Weg, um seine Kammer verlassen und hinter sich abschließen zu können.
„Was habt Ihr zu verbergen, Wayden?“
Wütend wandte er sich Palgmacher zu, der gerade komplett angezogen aus seiner eigenen Kammer kam. „Allmählich weiß man nicht mehr, wem man trauen kann und wem nicht, nicht wahr, Prior?“
„Euch traue ich jedenfalls nicht“, brummelte der vor sich hin. „Was ist passiert? Wer hat geläutet?“
„Das war ich!“ Außer Atem kam Preuß die Treppe herauf.
Seine Augen streiften Arnos.
„Bruder Stolz ist geflohen.“
„Warum habt Ihr ihn durchgelassen?“, schrie Palgmacher ihn an.
„Habe ich natürlich nicht“, kam entrüstet von Preuß. „Er ist über die Mauer. Ich konnte ihn nicht aufhalten. Bin sofort hergerannt, um Euch Bescheid zu geben.“ Wieder ein verstohlener Blick zu Arno.
Preuß war zu auffällig. Auch wenn Arno auf diese Weise sicher war, dass der Türhütebruder kein Verräter war, sondern augenscheinlich ein Ziel verfolgte.
„Wollt Ihr ihm nach, Palgmacher?“, zog Arno mit einer provozierenden Augenbraue die Aufmerksamkeit auf sich. „Das wäre doch ein Grund, die Klausur aufzuheben!“
„Wir versammeln uns im Kapitelsaal“, war die Reaktion des Priors. „Und zwar alle!“
Dort hatte sich eindrucksvoll gezeigt, wie spärlich selbiger inzwischen besetzt war. Nur noch zehn von ehemals achtzehn Brüdern waren übriggeblieben – wie leer würde es erst am Ende sein?
„Stolz ist schon direkt nach dem Abendessen fort“, hatte Arno von Preuß erfahren. „Ich habe nur die Gelegenheit ergriffen, Palgmacher zu beweisen, dass ich auf seiner Seite bin. Die haben mich ganz schön in die Mangel genommen nach Heussgens Flucht. Da dachte ich, das wäre gut ...“
Gut war auf jeden Fall, dass Arno sich Preußens Treue noch einmal hatte vergewissern können und ihn instruieren, die Pferde den morgen ganzen Tag bereitzuhalten. So war er schon um einiges beruhigter, als er sich schließlich – auf Befehl des Priors – auf dem Weg in seine Kammer machen konnte. Denn das war ein weiterer Punkt auf der 'Gut'-Liste: Palgmachers unverhohlenes Widerstreben, ihn, Arno, auch nur in die Nähe eines der Tore kommen zu lassen. So war er, selbst jetzt, wo die Auswahl an Mönchen so gering war, wiederum nicht zur Wache eingeteilt und stattdessen zusammen mit den Abgelösten auf die Kammern geschickt worden. Endlich Gelegenheit, mit Elisabeth den Fluchtplan zu fassen.
Welchen sie auf keinen Fall mehr heute Nacht in die Tat umsetzen konnten, weil Palgmacher mit seinem Liebling Hafner unten in der Halle weilte und die wachenden Brüder sich allesamt in Aufruhr befanden.
Arno hatte die Zwischentür zum zurzeit leeren Chorherrentrakt erreicht – und fragte sich für einen kurzen Moment, wieso er es überhaupt nicht bedauerte, wie sein Kloster, das ihm so viele Jahre das einzige Zuhause gewesen
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