Und Gott sprach: Wir müssen reden! (German Edition)
Dabei rutsche ich auf einem eisglatten Mauerstein aus, verliere das Gleichgewicht und versuche verzweifelt, Halt auf dem rutschigen Stein zu finden. Vergebens.
Ich stürze in die Tiefe und sehe gerade noch, wie Abel mir zunickt und sagt: «Keine Sorge, Jakob. Du kannst in diesem Leben nicht dein Leben verlieren.»
Ich sehe die Lichter einer weihnachtlich geschmückten Straße auf mich zurasen. Für Sekundenbruchteile kann ich den mit Schneematsch bedeckten, schmutzig grauen Asphalt erkennen.
Der Aufprall fühlt sich an, als würde mich jemand mit einer gigantischen Fliegenklatsche erschlagen. Im gleichen Moment öffne ich die Augen.
[zur Inhaltsübersicht]
Gott leidet
Wo bin ich? Nur langsam verwandeln sich die Schemen in scharfe Bilder.
«In meinem Bauwagen», nuschelt Abel verschlafen. Er sitzt an einem kleinen Küchentisch vor einer dampfenden Tasse Kaffee. «Genauer gesagt, auf meinem Gästesofa. Das ist übrigens eine besondere Ehre. Auf diesem exklusiven Möbelstück haben nämlich schon einige Zirkuslegenden übernachtet. Auch Kaffee?»
Ich nicke matt und setze mich schwerfällig auf. Abels Sofa mag exklusiv und legendär sein, bequem ist es definitiv nicht. Obwohl ein alter Kanonenofen den kleinen Raum mit stickiger Hitze füllt, sind meine Socken nass und eiskalt. Ich erinnere mich an unseren nächtlichen Weihnachtsausflug. War das ein Traum? Ich ziehe die Socken aus und lege sie auf den Ofen.
Abel reicht mir eine Tasse Kaffee. Er sieht hundemüde aus.
«Danke», sage ich und nehme einen Schluck Kaffee.
Meine Nase schmerzt. Ich betaste sie vorsichtig und fühle dabei den Verband. Bei dem Gedanken daran, wieder in jener Welt zu sein, in der ich zwar arm und erfolglos bin, aber immerhin überhaupt existiere, erfasst mich eine Welle des Glücks.
«Wie lange habe ich geschlafen?», will ich wissen.
«Zehn Minuten? Vielleicht fünfzehn?», erwidert Abel mit einem Schulterzucken. «Nicht länger jedenfalls, als ich gebraucht habe, um den Kaffee aufzuschütten und Feuer zu machen.» Er massiert mit den Fingerkuppen seine Stirn und verzieht dabei schmerzhaft das Gesicht.
«Was ist? Hast du Kopfschmerzen?»
«Höllische. Wir waren zwei Tage und fast drei Nächte lang unterwegs. Solche Reisen sind sowieso wahnsinnig anstrengend, aber mit zunehmendem Alter fallen sie mir von Mal zu Mal schwerer.»
«Ich glaube, ich weiß, was du meinst», sage ich. «Mir kommt es auch so vor, als wären wir ewig weg gewesen.»
Abel hebt den Kopf und sieht mich mit ernster Miene an. «Jakob, das war kein Traum, falls du das meinst. Wir waren wirklich in dieser anderen Welt. Und auch wenn das nicht deinem persönlichen Zeitempfinden entspricht, so haben wir dennoch Weihnachten dort verbracht. Heute ist der 27. Dezember. Heiligabend liegt also, wie schon gesagt, zwei Tage und fast drei Nächte hinter uns.»
Verwundert krame ich nach meinem Handy, um Abels Aussage zu überprüfen. Tatsächlich, es ist der 27. Dezember. Der Akku ist bald leer. An Heiligabend war er noch aufgeladen.
«Dein Geld und deine anderen persönlichen Sachen liegen noch im Haus deiner Mutter. Du erinnerst dich vielleicht, dass wir etwas übereilt aufgebrochen sind. Sie ist übrigens inzwischen zurück aus Florida.» Er hält einen Zwanziger in die Höhe. «Falls du ein Taxi nehmen möchtest …»
Ja. Ich muss mit Mutter reden. Nicht nur, um ihr reinen Wein einzuschenken, was die kriminelle Karriere ihres jüngsten Sohnes betrifft, sondern auch weil sie erfahren soll, dass Hanna von ihm schwanger ist. «Kannst du mir ein Paar Schuhe leihen? Und vielleicht eine Jacke?»
Abel nickt. «Klar.»
«Ich komme zurück, sobald ich reinen Tisch gemacht habe.»
«Gern.»
Ich denke an unsere wundersame Weihnachtsreise. Wenn sie kein Traum war, was war sie dann? Eine Art Hypnose? Eine Form der Suggestion? Unser Ausflug hat jedenfalls deutliche Spuren bei mir hinterlassen. Ich fühle eine fast euphorische Lust, meinen Kram neu zu ordnen. Die letzten zwei Tage und drei Nächte haben mir gezeigt, dass ich mein Leben ändern muss. Und zwar dringend. Sonst wird es nämlich eines Tages kaum Anhaltspunkte dafür geben, dass ich überhaupt gelebt habe.
«Brauchst du Hilfe?», fragt Abel und drückt mir Schuhe und einen Mantel in die Hand.
«Gerade nicht. Kann aber sein, dass ich darauf zurückkommen werde.»
«Kein Problem. Jederzeit.»
Ich bemerke erst jetzt, dass er nicht nur müde aussieht, sondern auch eine beängstigend blasse Gesichtsfarbe hat. «Du
Weitere Kostenlose Bücher