Und im Zweifel fuer dich selbst
meinen Großeltern war ich hier oft«, sagte ich zu Lene, die ihre Finger um die Kante der Bank klammerte. »Manchmal haben wir Eis geholt, und wer es aushielt, erst daran zu lecken, wenn wir hier vorne waren, hatte gewonnen. Man durfte nicht kleckern dabei. Das war das Spiel.« Sie schaute mich nicht an, ihr Blick ruhte weiterhin auf dem Mann und den Vögeln. »Einmal habe ich geträumt, dass wir abwechselnd durch das Fernglas geguckt haben und die Tanker in der Ferne beobachteten. Währenddessen sank die Brücke immer tiefer, und die Plattform hing nur noch lose am Rest der Brücke, der sich mit den Wellen hin und her bewegte. Es ging nichts kaputt, und wir hielten uns an den Pfeilern fest, alles wogte so vor sich hin. Im Traum hat mich mein Großvater mit seinem Gürtel ans Geländer geschnallt, und ich sollte stillhalten und warten. Und ich weiß noch, wie schwer mir das gefallen war, also im Traum. Aber irgendwann hatten wir wieder Sand unter den Füßen, und als wir rauskamen, standen die Leute am Strand und klatschten und jubelten.« Ich musste lächeln beim Gedanken an meine Angst vor dieser Brücke, die sich nach dem Traum noch eine Weile hielt.
»Hier bewegt sich nichts«, sagte Lene tonlos mitten in meine Gedanken hinein. Ihr Blick war starr und kalt und auch die Vögel flatterten nicht mehr. Es krachte, wenn die Wellen unter uns an die Holzpfeiler schlugen. Der Mann am Fernglas zog eine Mütze aus seiner Jackentasche und setzte sie auf. Er trug braune Lederschuhe und eine Hose in derselben undefinierbaren Farbe wie seine Jacke. Ich hatte mich schon immer gefragt, was ältere Menschen dazu trieb, sich nur noch Klamotten anzuziehen, die aussahen wie grauer Nebel und Matschpfützen. Alles an ihm war faltig, die Hände und der Nacken, das verbeulte Kinn und sogar die Ohrenrundungen. Aber dann lächelte er Lene an, und ich sah, dass ihm ein Eckzahn fehlte. Lenes Kopf war fast ganz und gar zwischen ihren hochgezogenen Schultern verschwunden, sie saß auf ihren Händen, als friere sie. »Hab ich mir beim Fußball ausgeschlagen«, sagte er, als er sich schon wieder von uns abgewandt hatte. Ich wusste nicht, ob ich richtig gehört hatte, und sagte vorsichtshalber erst einmal gar nichts. »1994«, fügte er hinzu.
Ich sah Lene an, aber die zuckte nur mit den Schultern, dann fragte ich: »Wie bitte?« Er drehte sich zu uns um, zeigte mit seinem furchigen Zeigefinger auf seinen Mund und begann dann, schallend laut zu lachen. »Wir waren gerade am Gewinnen gegen Ribnitz-Dammgarten, wisst ihr? Da stolpere ich über meine eigenen Füße und beiß in den Rasen. Natürlich liegt direkt da ein Stein. Zahn raus. Aber gewonnen haben wir trotzdem.« Hastige Schritte näherten sich und Lene ließ ihre Schultern einen Zentimeter sinken. Eine Frau mit Dutt kam mit zwei Windjacken im Armangelaufen. »Sanne, da bist du ja«, rief der Herr und breitete die Arme aus. Aber seine Angebetete schien das nicht lustig zu finden, sie reichte ihm eine der Windjacken und drehte sich dann entschuldigend zu uns um: »Verzeihen Sie. Manchmal weiß er nicht, wo er ist.« – »Kenn ich«, sagte Lene etwas lauter als beabsichtigt, jedenfalls zuckte sie bei ihren eigenen Worten zusammen. Der Mann lächelte und schaute wieder auf das Wasser. »Eine Stunde schon hab ich ihn gesucht«, sagte die Frau, ihr Gesicht entspannte sich gerade wieder. »Mittlerweile ist er so weit, dass er die kürzesten Wege vergisst und nicht mehr allein schafft. Hin vielleicht schon. Aber zurück, das ist meistens ein Problem.« Während wir gemeinsam zurück zum Strand gingen, plapperte sie aufgeregt weiter, erzählte uns, dass er seine Adresse im Portemonnaie habe, aber kaum Geld, denn damit käme er sowieso nicht mehr zurecht, das brauche er nicht. Und er lief an ihrem Arm, schwieg und schaute auf seine Fußspitzen. Die Brücke sei sein Platz, sagte sie, als wir in die kleine Straße hinter der Strandpromenade einbogen, mit dem Boot könne er ja nicht mehr raus, das sei zu gefährlich. »Wenn Hermann vergessen würde, wie das funktioniert, das wäre fatal. Da könnte ihn ja niemand finden, da draußen.« Dann standen wir vor einem kleinen Gartentor, und sie lud uns ein hereinzukommen auf einen Tee.
Noch sei es ja erst der Hippocampus, der Teil des Gehirns, der für das Kurzzeitgedächtnis verantwortlich sei, sagte sie später, als wir an dem runden
Tisch auf der gekachelten Terrasse saßen – »mein Einkaufszettel quasi«, warf er plötzlich ein –, aber
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