Und im Zweifel fuer dich selbst
Mädchen schritt den ganzen Raum einmal ab, strich mit der Hand über Schränke und Vorhänge, über die Sofalehne und klappte dann mit einer kurzen Bewegung ein Bett aus dem Schrank. In einem anderen Schrank verbarg sich eine kleine Küche mit zwei Kochplatten, ein paar Päckchen Tee, einem winzigen Kühlschrank und ein paar Schubladen. Vier Teller standen übereinander gestapelt auf der provisorischen Arbeitsplatte. Das Ensemble erinnerte mich an meine Puppenstube, fast hätte ich nach dem knackenden Lichtschalter gesucht, von dem aus ein rotes Kabel zu einer großen Batterie geführt hatte. Wenn die Batterie leer war und ausgewechselt werden musste, ging das nur, wenn man die Stube leer räumte. Ein Batteriewechsel bedeutete also auch ein neues Raumkonzept und Veränderung im Leben von Hans, Ilona und Marike. So hießen meine Puppen. Manchmal ließ ich ihr Zuhause eine Weileauf dem Kopf stehen. Dann lag das Licht auf dem Boden und der fusselige, dunkelblaue Teppich klebte beinahe unsichtbar an der Decke. Nur das Fenster war nun zu hoch für Hans, Ilona und Marike. Auf die Zehenspitzen konnten sie sich nicht stellen. Die Tür fiel ins Schloss, ich stand allein im Zimmer. Der Schlüssel lag oben auf dem vierten Teller. Ich ging hinaus in den Garten und umrundete das Haus. Am Gartentor saß Lene und kraulte die Katze. Beide schauten kurz auf, dann entwischte das Tier ins Gebüsch. Es sah mühsam aus, wie sich Lene aufrichtete. Ich holte noch unsere Sachen aus dem Wagen, und Lene schaute sich gar nicht im Zimmer um, sondern ließ sich sofort auf das Sofa am Fenster fallen. Als ich die kleine Stehlampe neben dem Sofa anknipste, schaltete Lene sie sofort wieder aus. Also machte ich Licht im Bad, der schwache Schein genügte, um die Formen im Raum zu erahnen. Lene bewegte sich nicht mehr, ein Arm lag über ihrem Gesicht, die Schuhe hatte sie noch an. Mit steifen Fingern knibbelte ich ihre Schnürsenkel auf, streifte ihr die Schuhe ab, befühlte mit einer Hand ihre heiße Stirn und zog dann den Vorhang ein wenig zur Seite, um das Fenster öffnen zu können. Doch ich fand keinen Griff. Ich betastete den gesamten Holzrahmen, es gab keine Möglichkeit, frische Luft herein zu lassen. Es blieb mir nur, die Tür zu öffnen. An den Türrahmen gelehnt, lauschte ich in die Dunkelheit, es zirpte und knarzte. Irgendwo sang ein Kind, und ich wusste nicht mehr, warum ich das seltsame Mädchen nicht nach ihren Eltern oder einem sonstigen Erwachsenen gefragt hatte. Im Zimmer vibrierte mein Handy. Wie lange ich noch in der Tür stand, bevor ich abschlossund ins Bad ging, wusste ich nicht. Ich hielt kleine Frotteehandtücher unters Wasser und wickelte sie der zitternden Lene um die Waden. Wenn sie warm wurden, wechselte ich sie aus, zwischendurch hockte ich neben dem Schlafsofa, hörte meinen Magen knurren, hielt Lenes Hand und wartete auf den Schlaf. In meinem Kopf rauschte ein Film. Ich sah Friedrich und Lene und Tim und Vince, ich sah uns im Auto nach Schweden fahren und im Park sitzen, ich sah meine Eltern und die leeren Stuhlreihen im Hörsaal der Universität. Irgendwann stand ich auf, schaute kurz auf mein Handy und fand noch eine Aspirin. Nachdem ich Lene die Tablette in den Mund gesteckt und Wasser hinterher geschüttet, nachdem sie sich verschluckt und aufgesetzt hatte und danach wieder in ihren Deckenberg zurückgesunken war, wählte ich die Nummer von Vince, ließ es einmal klingeln und legte wieder auf. Ja, wir leben noch.
Im Traum aber starb ich in dieser Nacht. Zehn Hände legten sich um meinen Hals mit jeweils zehn Fingern. An jedem Finger zehn Ringe, übereinander gesteckt, man konnte die Haut nur in kleinen Streifen sehen, Gliedmaßen wie Maschinen. Mit den Wimpern konnte ich sie berühren. Zwei Hände lagen über meinem Mund, und ich atmete ruhig durch die Nase. Das Silber der Ringe war kalt, meine Lippen spürten faltige Haut, Risse, Schwielen. Mit rauem Seil banden sie mich fest, die einzelnen Fasern des Seils wie die Haare auf meinem Arm. Die Knöchel an den Füßen rieben aneinander, knackten im Innern, niemand machte einGeräusch, ich atmete ganz ruhig. Als wäre nichts geschehen. Das Weiß in ihren Augen leuchtete gegen den blauen Morgen der Stadt, der Boden knarrte nicht wie sonst. Die Hände öffneten das Fenster und fassten unter meinen Körper. Man stellte mich auf und an die Fensterbank. Zwei Hände stets geschlossen über meinem Mund, das kalte Metall kehrte zurück unter mein Kinn, ich atmete weiterhin
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