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Und im Zweifel fuer dich selbst

Und im Zweifel fuer dich selbst

Titel: Und im Zweifel fuer dich selbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Rank
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Seite führte ein mit Torf bestreuter Weg zwischen entwurzelten Bäumen entlang, Schatten bizarrerMärchenfiguren. Es roch nach Ferien und Salz, ich schloss den Wagen ab, wartete, bis eine Karawane aus Wohnwagen vorüber gezogen war. Noch auf dem Torf zog ich die Schuhe aus, der erste Sand, mit allerhand Blättern und Nadeln vermischt. Die Sonne stand schräg über uns, das Rauschen brachte Erinnerungen an salzverklebte Haare, abgeschubberte Schienbeine und rote Handgelenke vom Volleyballspielen. Langsam, jeden Schritt bedächtig setzend, ging ich dem Meer entgegen, denn der schönste Moment ist immer der, wenn man die erste Linie Blau erkennt. Links und rechts weißer Sand, dunkelgrüne Dünengewächse, Strandhafer, vielleicht eine Hütte. Und dann fiel das Gehen schwerer, weil meine Füße sich tief in den Sand gruben. Das Gefühl, mit nackten Fußsohlen zum ersten Mal seit langem wieder im weichen, warmen Sand zu stehen, mit den Zehen zu wackeln, die Hüften zu beugen, kleine Muscheln zu greifen und den Sand vor und wieder zurück zu schubsen, sich hineinzuwühlen in diese unzähligen, winzigen Steine – als wir Kinder waren, markierte das den Beginn der großen Ferien, dann waren wir da und blieben auf unbestimmte Zeit. Man rechnete noch nicht, man lebte von heute auf morgen und manchmal auch auf übermorgen, höchstens.
    Lene stand im Wasser, die Schuhe hatte sie angelassen, die Hosen nicht hochgekrempelt, mit dunklen Rändern an den Beinen, ihr T-Shirt flatterte im Wind. Ihr Tuch hatte sie sich im Auto wie ein Pirat um den Kopf gebunden. Sie starrte aufs Wasser, die Hände tief in den Hosentaschen. Die Wellen schwappten über ihre Füße und wieder zurück, nahmen Sand mit und ließen ihn sinken. Und ich stand zwanzigMeter hinter Lene, sie sahen aus wie ein Bild, sie und das Meer. Vielleicht waren es nur fünf Minuten, die wir so verharrten, vielleicht viel mehr. Irgendwann setzte ich mich einfach dorthin, oben auf den höchsten Punkt, wo die Drahtabsperrung für die Dünen begann und ein paar schwarze Plastikmatten auslagen. Auf denen konnte man sich die Füße abputzen nach einem Tag am Strand. Lene wankte manchmal ein wenig, wenn sie versuchte, dem Wasser und seiner Kraft standzuhalten, das ihr immer wieder den Sand unter den Sohlen wegspülte. Mit jeder Welle rutschte sie einen halben Zentimeter tiefer hinein. Ich wartete einfach und rührte mich nicht. Ich vermisste zwei Hände auf meinen Schultern, und ich bin sicher, Lene vermisste sie auch.
    Ich dachte an meine Familie, an meine Eltern, die zuhause saßen und geduldig warteten, an meinen Onkel, der auf dem Geburtstag meiner Großmutter eine Rede gehalten hatte, in der es darum ging, dass man jeden Tag so leben solle, als sei es der letzte. Wie er die Stimme erhoben hatte und danach rot angelaufen und schnaufend auf seinen Stuhl zurückgefallen und den Rest des Abends nicht wieder aufgestanden war. »Tue jeden Tag etwas Besonderes«, hatte er gesagt, und Friedrich hatte genickt, und ich war ihm unter dem Tisch auf den frisch geputzten Schuh getreten. Er ließ es sich nicht anmerken und klatschte begeistert mit. »Wie?«, fragte ich ihn später. »Wie soll man denn jeden Tag über seine Grenzen gehen? Das hält man doch nicht aus. Niemand hält das aus.« Und jetzt, hier wünschte ich mir nichts sehnlicher zurück als unseren Alltag, die Langeweile, jedes Hineinleben in den Tag – alles, nur nicht dieses Gefühl derUnwiederbringlichkeit. Tim war nicht mehr da, und Lene, mit ihrer Unbeschwertheit und ihren Schwärmereien, verschwand vor meinen Augen. Es war, als habe man mir den Menschen genommen, der diese kleine Frau am Ufer einmal gewesen war. Ich vermisste ihren Blick nach einem Streit, wenn wir wussten, dass alles wieder gut war, vollkommen und ohne Nachhall, wenn wir Tee tranken und sie am Abend einfach bei mir blieb, weil es draußen zu kalt zum Nachhausefahren war und das Kassettenregal mit den Hörspielen verlockend in der Ecke stand. Ich vermisste ihren Blick am Morgen über dem Kaffeebecher viel mehr als ihren lauten Schrei nach dem Bungeesprung. Das Vergessen beginnt genau an diesem Punkt, dachte ich, als sie sich suchend umschaute. Meine Hand winkte ihr, aber ich bemerkte sie erst wieder richtig, als sie sich neben mich setzte und zur Seite umfiel. Mit der Wange im Sand blieb sie liegen, ein paar Strähnen im Gesicht und Fäuste in der Hosentasche. »Alles okay?«, fragte ich, und sie schüttelte den Kopf, so gut es eben ging, wenn man im

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