Und immer wieder Liebe Roman
darüber schreibe. Er und seine Freunde finden ihn natürlich »sensationell«.
New York, den 12. Juli 2004
Ort des Friedens Nr. 10, Metropolitan Museum
Liebe Emma ,
es ist gerade Pause an der Met, wo es großartigen Kaffee gibt, richtig italienischen. Ich lese den »Corriere della sera« dazu. Apropos: Habe ich Dir eigentlich je von dem Zeitschriftenhändler meines Vertrauens erzählt? Er heißt James, befindet sich am University Place, zwischen der Achten und der Neunten, und legt mir meine Zeitung jeden Tag zurück.
In einem Interview in der »New York Times« hat Renzo heute übrigens verlauten lassen: »Architektur ist gefährlich. Sie ist gefährlich für die Gesellschaft, weil sie allen aufgezwungen wird, im Gegensatz zu einem Roman oder einem Bild. Sie ist physisch existent. Scheußliche Musik muss man sich nicht anhören, einen langweiligen Roman kann man zuklappen, aber ein hässliches Haus ist immer da, direkt vor unserer Nase.«
Diesen Satz wollte ich an Dich weitergeben: Mach Dir diese Verantwortung bewusst, und sei nicht beleidigt wegen der Romane. Er, der die Gabe der Leichtigkeit besitzt, zitiert oft Calvin. Die Stadt besteht aus Häusern, Straßen, Plätzen. Wir bauen die Morgan Library nach der Idee des Platzes um. Und wir werden einen großen Baum pflanzen. Einen Ficus, glaube ich.
Der Kaffee ist alle. Ich kehre auf die Baustelle zurück, wo ich mit Frank und den anderen verabredet bin, aber ich denke nur an Dich.
Federico
P.S. Meine Gedanken sind aus Stein, nicht wie Deine Seiten...
Der Anruf kommt früh. Ich bin schon im Laden und gerade mit dem Staubwischen fertig geworden. Irgendetwas stimmt hier nicht. Mich irritiert etwas, das ich nicht genau benennen kann.
»Ernesto ist tot.«
Wortlos halte ich den Hörer zwischen den Fingern. Mir ist noch nie aufgefallen, wie schwer er ist.
»Er hat gelesen. Er hat das reading für Mittwoch vorbereitet«, fügt die Stimme hinzu.
»Was hatte er ausgewählt?«
»Das karmesinfarbene Blütenblatt von Faber. Seit Tagen hat er davon geredet. Er war sich ganz sicher, dass es seinen Kunden gefallen würde.«
»O Lucilla. Das tut mir so leid, Lucilla.«
Sie sagt »seinen Kunden«. Und ich bin nicht einmal eifersüchtig. Warum bin ich unfähig, sie zu trösten? Was für ein dämlicher Satz, der mir da entschlüpft ist, ein dämlicher Satz von einer dämlichen Frau. »Was hatte er ausgewählt?«, ist die dümmste Frage, die mir hätte einfallen können. Wenn einem jemand sagt, dass eine Person, die man sehr gern hatte, gestorben ist, denkt man sofort an seinen eigenen Tod, auch wenn man sich sonst nur ganz selten damit beschäftigt. Das ist menschlich, sehr menschlich. Ich bin da keine Ausnahme, auch wenn in meinem Fall alles geregelt ist. Ich möchte kein Grab, meine Asche soll auf dem Meer verstreut werden. Mattia soll sich nicht verpflichtet fühlen, mit fettlösenden Mitteln meinen Grabstein zu polieren und Blumen anzuschleppen. Ich wüsste nicht einmal, was für einen Spruch ich wählen sollte.
Ich ziehe meine fliederfarbene Baumwolljacke an und habe nicht den Mut, Alice zu erzählen, was passiert ist – sie strahlt so glücklich, als sie in den Laden kommt. Stattdessen steige ich in ein Taxi. Fahre zu Lucilla.
Aufgang A, dritter Stock. Marmortreppe. Absätze. Einfache Nachnamen. Rossi, Solari, Benvenuti, Boschi. Die Tür im dritten Stock ist nur angelehnt. Licht fällt in die Wohnung und ins Schlafzimmer. Normalerweise schließt man die Vorhänge, wenn ein Todesfall eintritt, das ist ein ungeschriebenes Gesetz, und unbewusst haben sich meine Augen schon auf Dunkelheit eingestellt. Stattdessen fällt, seit es zu regnen aufgehört hat, das Licht einer bleichen Sonne herein, und mir erscheint das nicht als Mangel an Respekt. Ernesto liegt auf dem Bett, sehr schick in seinem blauen Anzug. Am Revers des Zweireihers mit sechs Knöpfen prangt das Wappen der Gebirgsjäger. Das Hemd ist so blau wie seine Augen, und die Krawatte ist mit kleinen orangefarbenen Giraffen gemustert. Er ist schön. Ein unbestimmtes Gefühl des Friedens geht von ihm aus. Er scheint eher zu schlafen, als tot zu sein, wenn da nicht dieses bleiche Gesicht wäre und der massive Holzkasten, der auf einem Metallsockel mit Rollen bereitsteht. Signor Ernesto hieß Boschi mit Nachnamen, und erst jetzt wird mir klar, dass er in der Buchhandlung nie einen Nachnamen hatte. So geht es mir immer mit Toten: Sie sind mir sehr nah, aber in irgendeinem Winkel meines
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