Und immer wieder Liebe Roman
Essen einzuladen. Die Mütter ihrer Klassenkameraden haben sie praktisch adoptiert. Nur wenn ich abends und nachts allein bin, wie jetzt, da Sarah schläft, gestatte ich es mir, mich gehen zu lassen.
Ich werde Sie anrufen und bitte Sie, das auch zu tun, wenn irgendetwas ist.
Viele herzliche Grüße
Federico
Plötzlich ist mir alles klar. Gebrochenes Herz. Ernsthaft gebrochen, nicht wie im Regal der Buchhandlung.
Mit einem unschuldigen Leichnam kann ich es nicht aufnehmen.
Immer war sie unsichtbar. Ihre Abwesenheit war total, und plötzlich hat sie einen Körper.
Ich weine. Es ist das zweite Mal, dass ich wegen einer verlorenen Liebe weine. Immer dasselbe. Endlich kann ich mir einen Reim auf die Sache machen.
Als der Morgen anbricht, bin ich ruhig. Belle-Île ist wieder, was es war: eine einzigartige Landschaft. Schauplatz einer Liebe. Eine geliebte Person.
Irgendetwas wird geschehen, und wenn es geschieht, bin ich nicht hier.
Mein Aufbruch ist endgültig. So wie der Sarah Bernhardts, damals im August 1922. Zu diesem Zeitpunkt ist sie neunundsiebzig und allein, ihr rechtes Bein ist amputiert, sie wird am Arm geführt und hat immer einen Spezialstuhl dabei. Auf ihrem geschminkten Gesicht haben die Jahre ein Netz tiefer Falten hinterlassen. Der Körper, den man in Decken gehüllt hat, ist stark gebeugt. Die Amputation zwingt sie, zu sitzen oder zu liegen, wie Sterbende oder Invaliden von der Front. Die Menge wohnt diesem Schauspiel traurig und gleichzeitig voller Bewunderung bei. Ein Mann kniet vor der Göttlichen nieder. Dieser Aufbruch ist endgültig, das wissen sie beide. Das Wetter ist schön, Sarahs Stuhl wird draußen an Deck aufgestellt. Die Fähre entfernt sich vom Ufer. Im Bug winken die Reisenden mit Taschentüchern, während sich die Freunde um die alte Tragödin kümmern, die vor sich hindöst.
Die Fähre verlässt die Insel und steuert auf den Kontinent zu. Sie dreht nach links ab und verschwindet hinter der Mole, lässt dichten, grauen Dampf zurück.
Man liest, um sich zu retten, um sich gewissenhaft hinzugeben. Lesen ist eine durchschaubare, aber geniale Verteidigungsstrategie. Lesen ist das perfekte Hausmittelchen, weil man den Blick fixiert und die Unordnung der Welt nicht mehr wahrnehmen muss. Die Worte stopfen das Getöse nach und nach in einen Trichter, aus dem es in die Förmchen tropft, die wir Bücher nennen. Gleichzeitig ist Lesen aber auch die raffinierteste und feigste Form des Rückzugs.
Und vor allem ist Lesen von unendlicher Sanftheit. Wer kann etwas von Sanftheit verstehen, wenn er nie sein Leben, sein ganzes Leben, über die erste Seite eines Buchs gesenkt hat? Die einzige und sanfteste Hüterin einer jeden Angst. Ein Buch, das beginnt.
Diese Worte habe ich in einem an mich adressierten Umschlag ohne Absender gefunden, jemand hatte ihn unter der Tür der Buchhandlung durchgeschoben. Und auch jetzt, da ich schon seit einer guten halben Stunde unbeweglich wie eine dürftige Kopie von Marcel Marceau vor dem Postamt stehe, weiß ich nicht, wer das geschrieben hat. Schöne Worte sind es, und so habe ich den Zettel in die Tasche gesteckt. Ich lasse mir Zeit, beobachte die Menschen, die vorbeigehen – oder vielmehr vorbeirennen: Hier rennen sie alle -, und komme mir vor wie eine dieser Betschwestern, die in der Schürze auf dem Balkon sitzen, die Hände in den Schoß legen und distanziert lächeln, weil dieses Schauspiel sie nichts angeht. Der Mailänder Staub lagert sich in meinen Haaren
ab, es scheint ein Wind zu gehen, aber ihm fehlt die Sehnsucht des Windes nach Freiheit. Er ähnelt vielmehr der Melancholie des Wassers, das sich, nachdem sich die Welle gebrochen hat, wieder zurückzieht, wieder Teil des Meeres sein will.
Die Fahrradkette lege ich um das übliche, lieb gewonnene Straßenschild. Der Pfeil auf blauem Grund zeigt jetzt nach unten, auf den Bürgersteig, und niemand hat sich die Mühe gemacht, ihn zurechtzurücken. Mein Körper schmerzt, als hätte ich es mit der Gymnastik übertrieben und wäre, wie mein Trainer immer sagt, über längst vergessene Muskeln gestolpert.
Im Laden werde ich als Allererstes das Schild am Regal der »Gebrochenen Herzen« austauschen. Seit Monaten denke ich schon darüber nach. Alberto wird es nicht merken, und von mir war es als Fantasiename gedacht, nicht als Bezeichnung für ein Syndrom, das Ehefrauen tötet. »Liebeskatastrophen« wird niemandem zu nahe treten. Belle da Costa hat vor ihrem Tod die Briefe von Bernhard
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