Und immer wieder Liebe Roman
versuche, das einzige Thema, das mir am Herzen liegt, zu vermeiden. Der Seeteufel ist vorzüglich, und mittlerweile kann ich meine Scham ja in einem Glas Wein ertränken
»Federico ist am Boden zerstört«, sagt sie, und mir scheint, dass sich ihre Augen unwillkürlich in kleine Seen verwandeln. »Ich habe vor zwei Wochen mit ihm telefoniert, und er ist immer noch wie gelähmt. Er steht unter Schock und macht sich große Sorgen wegen seiner Tochter.«
Eifersucht und Neid auf diese so liebenswerte Frau rauben mir ohne Vorankündigung den Atem. All diese Tage hat sie mich beobachtet und gewusst, wieso ich wie eine traurige Heldin herumlaufe – und hat nichts gesagt. Erst jetzt, an diesem Tisch, der wie eine überschminkte alte Frau herausgeputzt ist, bricht sie ihr Schweigen.
»Er hat mir einen Brief geschrieben, ja«, stammele ich verlegen und hasse sie. Ich hasse diese Frau, die Estragonsoße über den Fisch gießt, hebe das Glas an die Lippen und verschmiere es mit Lippenstift. Am liebsten würde ich verschwinden, meinen Koffer packen und sie nie wiedersehen. Ich hasse sie, weil sie etwas weiß, es immer gewusst hat, und mich wie eine Statistin behandelt. Während sich meine Gedanken in einem danse macabre
drehen, fängt Annick zu erzählen an, ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass ich vielleicht gar keine Fakten kennen könnte. Ich weiß nicht, wovon sie redet, und Familientreffen sind nichts für mich.
»Hat Sarah Probleme?«, füge ich mich in meine Unwissenheit, weiß aber so gar nicht, wo ich einhaken soll, um zu verbergen, dass ich den Grund für Federicos »Zerstörung« nicht kenne. Lange kann ich den Zustand der Unwissenheit allerdings nicht ertragen.
»Annick, ich verstehe nicht, was Sie sagen wollen.«
Schnell stürze ich einen großen Schluck Wein herunter. Ich hoffe, dass sich mein Kopf bald zu drehen beginnt und dass ich später wie ein Stein schlafen werde. Ich muss mich betrinken. Das kann ich mir jetzt erlauben. Wen interessiert schon die Demütigung, die ich wie eine Ozeanwelle heranrollen spüre? Ich bin nie zur See gefahren, und möchte jetzt auch nicht mehr damit anfangen. Die Wiederholungen im Leben sind eine schlimme Sache, Wiederaufgüsse für gewöhnlich eine Enttäuschung. Als würde man einen Roman lesen, den man als Kind sehr geliebt hat und nun langweilig findet, zu sentimental, schlecht geschrieben, unverständlich. Was meint sie mit Wörtern wie »am Boden zerstört«, »wie gelähmt«, »Schock«? Ist dem tatsächlich so? Wegen einer heimlichen, betagten Liebe? Kommen Sie, Annick, wir wollen doch nicht übertreiben. Solche Geschichten enden eben irgendwann. Wir waren nur ein Gelegenheitspaar. Pendler der Liebe. Sporadisch und gedankenlos.
»Ich höre.«
Annick schaut mich liebevoll an und begreift meine Verlegenheit, denn sie ist selbst verlegen. Ich zupfe an meiner Unterlippe und warte darauf, dass sie etwas sagt. Stattdessen steht sie auf, geht zum Empfangstresen, den ich von hier aus sehen
kann, öffnet eine Schublade, kramt darin herum, kehrt zurück und setzt sich.
»Hier«, sagt sie leise und gibt mir einen Brief. Er ist mit einem Füllfederhalter geschrieben. Die Tinte ist schwarz. Ich wende mich zum Kamin. Es ist wie im Zug, wo man aus dem Fenster sieht, um nicht sein Gegenüber anschauen zu müssen. Mir gelingt das alles nicht sehr gut, und ich nehme Federicos Schreiben in die Hand, als wäre es ein Heiligenbildchen.
New York, den 7- Februar 2005
Liebe Annick,
entschuldigen Sie bitte, dass ich mich auf Ihre E-Mail hin nicht mehr gemeldet habe. Ihnen zu schreiben, hilft mir, etwas Ordnung in das Chaos der letzten Wochen zu bringen. Ich bin zu Hause, es ist Nacht, Sarah ist neben mir auf dem Sofa eingeschlafen. »Und was machen wir jetzt, Papa?«, hatte sie mich gefragt, als wir bei Julien saßen, einem französischen Restaurant mitten in New York. Eine einfache Frage, die naheliegendste Frage, die ein Waisenkind seinem Vater stellen kann. Ich habe gesagt, dass wir uns schon irgendwie durchschlagen, auch wenn ich nicht genau weiß, was »sich durchschlagen« heißen könnte. Zu Hause habe ich sie dann so fest in den Arm genommen, als wollte ich alle Angst aus ihr herauspressen, dieses Gefühl des Verlorenseins im Angesicht des Todes. Aus mir kann ich die Scham, noch zu leben, leider nicht herauspressen. Es ist ein Trost für mich, dass ich jetzt, während ich Ihnen schreibe, Annick, auf dem Sofa sitze, auf dem wir sie gefunden haben. Sie
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