Und immer wieder Liebe Roman
hatte ihre Hände vor der Brust verschränkt, als wollte sie schützen, was sich dahinter verbirgt. So lag sie da. Ein Schwindel, das Sofa, die Hände verschränkt. Und ein Blick, der irgendetwas zu erflehen schien, während Sarah sofort
zum Telefon lief. »Siehst du mich?«, habe ich sie gefragt. »Ich sehe deinen Schatten«, hat sie im Flüsterton geantwortet. Dann nichts mehr.
Anna war eine gesunde Frau. Man hat sie in einen Notarztwagen verfrachtet und fortgebracht. Ich habe auf dem Krankenhausflur gewartet, und als mir der Arzt entgegenkam, haben seine Hände mir schon verraten, was ich wissen musste. Ich bin auf die Knie gefallen wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hat. Der Schmerz war unmenschlich, und ich hätte mich aus dieser unwürdigen Position befreien müssen. Die Ärzte kamen und haben wie Betrunkene auf mich eingeredet, haben ständig wiederholt, dass sie verstehen könnten, was ich fühle, und dass ich jetzt all meine Kraft zusammennehmen müsse. Aber da war keine Kraft, nirgends. Ich konnte nicht aufstehen. Ich wollte dort bleiben, den Schmerz zusammenhalten und ihn unter den Knien verstecken. Oder unter den Händen, die auf den Boden gestützt waren. Eine Migräne oder irgendetwas Ähnliches trommelte in meinem Kopf herum. Sarah kam auf mich zu, eine Puppe, die wie ein Teenager angezogen war – gelber Pullover, Hüftjeans, robuste Schuhe, bereit zur Schlacht. Es war mir entsetzlich peinlich, dass sie mich so sehen musste, aber ich konnte mich nicht bewegen. Im selben Moment zu begreifen, was die Liebe und was der Schmerz ist, beides zusammen, ist ein unbeschreibliches Gefühl, ein senkrechter Absturz ins Unbekannte.
Ich habe darum gebeten, sie sehen zu dürfen. Man hatte sie in ein Bett gelegt und die Beatmungsschläuche entfernt. Ich habe gefragt, warum Anna gestorben ist, ohne es auch nur begreifen zu können, ohne sich verabschieden zu können, ohne uns die Zeit zu lassen, ihr zu sagen, wie sehr wir sie lieben. Wie ein Idiot habe ich mich gefühlt. Ich hätte mich nach den »technischen« Details dieses Todes erkundigen müssen. Alles andere ging nur mich etwas
an, aber die Worte sprudelten einfach aus mir heraus -was ziemlich seltsam ist für jemanden, der sonst niemandem vertraut. Die Bürokratie des Todes ist wie die Bürokratie der Banken und Behörden. Die Bürokratie des Todes hat nichts mit dem Tod zu tun. Ein Paradox, oder? »Das Herz«, sagte man mir. »Aber ein Infarkt war es nicht. Um die Ursache zu finden, müssten wir eine Autopsie durchführen. Geben Sie Ihre Zustimmung dazu?«
Was sollte der genaue Befund einem betäubten Mann und einem verstörten Mädchen schon mitteilen?
Anna ist an einer Krankheit mit einem exotischen Namen gestorben, Annick. Ihr Herz war gebrochen. Ich habe den freundlichen Ärzten zugehört und immer nur einen einzigen Gedanken gedacht: Gebrochenes Herz, das klingt nach einer Redensart, nach Comicsprache.
Tatsächlich aber ist es eine Krankheit. Sie nennt sich Tako-Tsubo-Syndrom, und ich musste lachen, weil es Syndrome gibt, deren Name wirklich lächerlich ist. Vorwiegend Frauen bekommen so etwas, haben sie mir im Krankenhaus erklärt, als wollten sie mich beruhigen, dass mir das nicht passieren könne. Kaum zu glauben, dass Herzen so unterschiedlich sein können, auch wenn ich davon überzeugt bin, dass Männer und Frauen es jeweils anders benutzen. Sie lieben anders. Sie sterben anders. DasTako-Tsubo-Syndrom ist eine Folge von emotionalem Stress. Das Hirn schüttet sogenannte »Stresshormone« aus, die das Herz angreifen. Die linke Herzkammer verformt sich und sieht irgendwann aus – so erklärte es der Kardiologe, als würde er ein Märchen erzählen – wie eine alte japanische Vase in Form einer Korbflasche. Japanische Fischer fangen Kraken mit solchen Vasen, von denen sich der absurd komische Name ableitet. Meine Frau hatte ein gebrochenes Herz, und ich habe es nicht gewusst. Hätte sie rechtzeitig Medikamente bekommen, hätte sich das Herz wieder »normalisiert«,
und von dem Gefühl, das es zerbrochen hatte, wäre keine Spur zurückgeblieben. Anna war allein zu Hause. Sarah war mit mir unterwegs, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Ich bin nicht rechtzeitig gekommen, Annick, und finde keinen Frieden mehr. Die Tage verbringe ich auf der Baustelle der Morgan Library, die mein Panzer geworden ist. Der Architekt Renzo Piano ist bei mir, und meine Kollegen reißen sich ein Bein aus und suchen nach Vorwänden, um mich und Sarah zum
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