Und immer wieder Liebe Roman
zu verschleiern; jene, die die Menschen in ihrer Gemeinschaftlichkeit sehen, neigen dazu, die Verschiedenheit der Kulturen für zweitrangig zu halten. Gegen beides muss man eine Kultur setzen, die Unterschiede schützt und fördert, eine Kultur, die sich als Einheit versteht.« Ein schöner Gedanke, nicht wahr? Ausgewogen, korrekt, pazifistisch, Lehnstuhlphilosophie. Für meinen Geschmack fehlt aber ein Kommentar, der in die Kultur des Lebens die Würde des Menschen einschließt, und die besteht jenseits leerer Worte und Glaubenskriege auch noch aus alltäglichen Dingen.
Sagen wir doch, wie es ist: Du und ich, wir sind Privilegierte. Wir gehören zu den 38 Prozent der Weltbevölkerung, die ein Telefon haben, und zu den 60 Prozent mit elektrischem Strom. Wusstest Du, dass alle fünf Sekunden ein Kind verhungert und pro Jahr mehr als vierzig Millionen Menschen? Und wusstest Du, dass mehr als siebenhundertfünfzig Millionen Personen von weniger als einem Dollar am Tag leben? Dass wir, die Bevölkerung der Erste-Welt-Länder, 80 Prozent der verfügbaren Ressourcen verbrauchen? Unser Planet verfügt über Milliarden von Kubikkilometern Wasser – eineinhalb Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu diesem Wasser. Wenn man nur fünfzehn Jahre lang ein Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben abzweigen würde, könnte man das Wasser gerecht verteilen. Würde das reichen? Ich möchte noch hinzufügen, dass es Leute gibt, die mit 40 000 Euro im Monat in Rente gehen, während andere mit 420 auskommen müssen. Ergibt das alles einen Sinn?
Weißt du noch, wie wir als Jugendliche beim Picknick am Strand über politisches Engagement diskutierten? Egal. An meine Zeit als Achtzehnjähriger habe ich klare Erinnerungen, und
sie tragen alle Dein Gesicht. Ich war schon immer ein harmoniebedürftiger Typ. Damit muss jetzt Schluss sein, ich würde gern mehr an die anderen denken. Der Dialog sieht vor, dass es mindestens zwei Gute gibt. Ich möchte versuchen, es zu sein, möchte mich ein wenig nützlich machen. Verzeih diese Ergüsse, aber abgesehen von Dir weiß ich nicht, wem ich das alles sagen soll. Meine Zeichnungen. Deine Romane.
Was noch?
Federico
Mailand, den 10. Dezember 2001
Lust&Liebe
Lieber Federico,
ich schreibe in einer Ecke, von der aus ich Alice beobachten kann, ohne dass sie es falsch versteht. Du hast sie ja gesehen, sie ist hübsch mit ihren kleinen, perfekten Brüsten und hat das ganze Leben noch vor sich. Seit ein paar Tagen macht sie mich auf unbestimmte Art nervös, und jetzt weiß ich auch, warum: Ich bin neidisch. Es ist ein stärkeres Gefühl als bloß ein anthropologisches Interesse an einer anderen Generation, der Generation der Dreißigjährigen, die ich, das kann ich ruhig zugeben, immer für ungehobelt gehalten habe. Wenn ich an uns denke, spüre ich eine Kluft und mache mir klar, was für ein Glück wir hatten. Vielleicht neigt auch nur jede Generation dazu, sich selbst freizusprechen und Dinge zu glorifizieren, die zu ihrer Zeit vollkommen normal waren. Verglichen mit uns hatte Alices Generation das Pech, in den Achtzigerjahren zur Schule zu gehen, als die Zeit der großen politischen Erregung schon vorbei war. Der Individualismus kam auf und hat aus unseren Kindern das gemacht, was sie jetzt sind: Sie kennen Zeichentrickfilme statt Lieder, sie singen Lady Oscar
statt Blowing in the Wind . Wir haben an der Uni politische Parolen skandiert – zugegebenermaßen auch ziemlichen Mist manchmal -, und doch haben wir versucht, einen Stich zu landen. Jede Generation hat ihre eigenen Regeln, dennoch würde ich einiges darum geben, so alt zu sein wie Alice und über meine Zukunft noch entscheiden zu können. Ich schließe jetzt lieber, bevor ich irgendwelche einfältigen Sätze streichen muss. Mein Brief ist keine Antwort auf den Deinen, er teilt nur Deine Ratlosigkeit und Deine Angst, die ich absolut nachvollziehen kann und vor der ich zwischen die Seiten eines Romans flüchte. Die Kinder, zumindest auf dieser Seite des Ozeans, scheinen von den Ereignissen nicht erschüttert. Warum?
Emma
Bis gestern konnte man sonntags nur in den Filialen der großen Ketten einkaufen. Seit heute können die Mailänder an zwei Sonntagen im Monat auch auf meinen Service zählen. Vor ein paar Stunden haben wir die Buchbörse eröffnet. Zwischen den Tischen drängen sich Menschen jeder Couleur: Unsere treuesten Kunden neben Schmarotzern, die dem Zyniker Alberto zufolge nur kommen, um sich aufzuwärmen.
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