Und immer wieder Liebe Roman
einen Zug, dann in einen anderen Zug und schließlich auf ein Schiff. Ein Spaziergang ist genau das, was ich
jetzt brauche. Apropos: Wie kommt es eigentlich, dass du die Insel so gut kennst?«
»Meine Mutter hat immer von ihr erzählt. Und nachdem ich sie mir all die Jahre immer wieder im Geiste ausgemalt habe, dachte ich, dass es vielleicht eine gute Idee sei, diesen Ort hier mit dir zusammen zu erkunden.«
»Fehlt sie dir, deine Mutter?«
»Manchmal.«
Wenn es um Bekenntnisse geht, zieht Federico sich zurück, brüsk, fast schlecht erzogen. Frag nicht weiter, lautet das Signal. Für ihn ist die Chronologie, was für mich Eindrücke sind; sie ist eine gerade Linie, während ich so gerne den Umweg über Parenthesen, runde Klammern, eckige und geschweifte Klammern nehme. Federico hat ein warmes, aber vorsichtiges Herz. Er denkt linear, beginnt bei der Vergangenheit und endet in der Gegenwart: Ich habe dieses getan, ich habe jenes gesagt, ich denke, dass... Seine Briefe sind Erzählungen, aber jetzt, da er hier bei mir ist und meine Hand so fest drückt, dass mir die Finger schmerzen, verschließt er sich in sich selbst wie ein Kind, das sich vor dem Getöse des Windes die Ohren zuhält.
»Okay, dann lass uns gehen. Es sind nur ein paar Minuten. Mit dem Auto.«
Wir überqueren eine Straße, die ein abgeerntetes Feld durchschneidet. Vor ein paar Wochen hat hier noch golden das Getreide gestanden. Die weiß gekalkten chaumières sind bloß Fassade. Nur wenige haben sich den Charme der ursprünglichen Steinhäuser bewahrt, dieser Landhäuser mit Reetdach und Lehmputz, einem einzigen Stockwerk und einer fensterlosen Kornkammer darüber.
Federico bringt den Jeep vor einem schmalen Menhir zum Stehen. Wir steigen aus.
»Emma«, beginnt er und klingt, als wollte er mir einen Jugendfreund vorstellen. »Das ist Jean.«
»Für mich ist das nur ein Stein«, sage ich ehrlich. »Megalithen sind hier das, was in Italien die Kirchen sind: Selbst das elendste Nest hat noch seinen Pflicht-Menhir.«
»Du unterschätzt den emotionalen Wert dieser architektonischen Gebilde, Emma. Jeder Menhir ist das stilisierte Ebenbild eines Menschen. Auf der Belle-Île gab es viele von ihnen, aber die meisten wurden wegen solcher Häuser dahinten weggeschafft. Architekten, Emma, waren mal Architekten aus einer Notwendigkeit heraus. Der Grund, der die Menschen zum Bauen treibt, ist der Wunsch, sich zu erinnern. Für einen Menschen ohne Erinnerung ist das natürlich nicht nachvollziehbar. Da hinten ist Jeanne, die Frau, die er geliebt hat«, fügt er hinzu und zeigt auf einen etwas gedrungeneren Menhir.
»Jean war Barde. Er sang über das Meer, die Legenden der Täler und die kriegerischen Triumphe. Jeanne gerbte die Felle, die ihre Eltern im Winter schützen sollten. Sie war arm, aber so schön und gut, dass Jean sich auf den ersten Blick in sie verliebte.«
»Wie süß«, spotte ich. »Eine Schneewittchengeschichte! Heute würde man sie aber wahrscheinlich eine ›dumme Nuss‹ nennen, ein unerträgliches Frauenzimmer. Bei allem Respekt, mein Lieber, aber ich glaube, dass sich nur ein Architekt derart für einen Stein erwärmen kann. Die Bretagne scheint ja überhaupt nur aus Steinen mit magischen Kräften zu bestehen, und kurioserweise ist für jeden Bedarf etwas dabei: Steine für Reichtum, weissagende Steine, Steine, um das Augenlicht wiederzuerlangen, Steine, die Fieber senken, Steine, die man anruft, wenn man gerne heiraten würde, Steine, die in der Weihnachtsnacht, wenn die Kirchenglocke Mitternacht schlägt, das Meer aussaugen.«
»Soso, du bist zwar unbelastet von Erinnerungen, aber gut vorbereitet!
Aber lass mich noch zu Ende erzählen, du Ungläubige! Die Druiden entschieden, dass die Liebe zwischen Jean und Jeanne unwürdig und unmöglich sei, und befahlen den Hexen, die beiden in Steine zu verwandeln. Die guten Feen konnten diese Entscheidung zwar nicht rückgängig machen, aber sie sorgten dafür, dass die beiden Liebenden für eine einzige Nacht im Jahr wiedervereint werden. Diese Legende würde sich übrigens gut in deiner Buchhandlung machen – vielleicht in der Kategorie ›Unmögliche Liebe mit Potenzial‹.«
»Wenn sie unmöglich ist, bleibt sie das auch. Die Handlung würde nicht funktionieren.«
Er zieht mich an sich und küsst mich, küsst meinen Hals, meine Wangen, meine Augen, meinen Mund, und in seinen Berührungen liegt all die in den letzten elf Monaten angestaute Zärtlichkeit. Ich klammere mich an seine
Weitere Kostenlose Bücher