Und jeder tötet, was er liebt
ausgiebig geduscht hatte, saß sie nun in Paulas altem grauen Jogginganzug in der Küche und trank ein großes Glas Apfelschorle.
„Was ist los? Du läufst doch nicht ohne jeden Grund zu nachtschlafender Zeit diese Wahnsinnsstrecke.“
Anna amüsierte sich über die verständnislose Miene ihrer Freundin.
„Du vergisst immer, dass ich mich im Unterschied zu dir gern bewege.“
Paula grinste.
„Das tu ich auch.“
Anna zupfte an ihrem Ärmel herum und überlegte dabei, wie sie nur anfangen sollte. Am besten war es immer noch, direkt auf den Punkt zu kommen.
„Ich habe mit Jan geschlafen.“
„Und? Hat es sich gelohnt? So wie du in der letzten Zeit von ihm gesprochen hast, war ja klar, dass das irgendwann passieren musste.“
„Mensch Paula, kannst du nicht einmal einfach nur zuhören?“
„Du hast doch nicht etwa Tom davon erzählt?“
„Nein.“ Anna spürte, wie ihr das Herz schwer wurde. „Aber ich denke, dass ich es bald tun muss.“
„Das lass mal lieber hübsch bleiben. Mal im Ernst, Tom wird an die Decke gehen, wenn du ihm erzählst, dass du mit seinem Bruder geschlafen hast. Was wären wir Frauen ohne unsere kleinen Geheimnisse.“
„Lügen ist nicht meine Stärke, Paula. Zwischen Tom und mir stimmt es seit Langem nicht mehr, aber bisher konnte ich immer noch mit ruhigem Gewissen sagen, dass es nicht daran liegt, dass ich einen anderen habe.“
„Und darauf bist du auch noch stolz? Du verhältst dich eher wie ein Schulmädchen, wenn du so redest, nicht wie eine erwachsene Frau. Hast du dich etwa in Jan verliebt?“
Anna nahm ihren Trainingsanzug vom Stuhl.
„Ich muss jetzt wirklich los, kommst du?“
Anna wusste, irgendwann würde sie Paulas Frage für sich selbst beantworten müssen. Schließlich konnte sie nicht ewig vor ihren eigenen Gefühlen davonlaufen.
Ein Mensch, der nichts anderes gewohnt war, als zu warten, würde diese Prüfung wahrscheinlich demütig hinter sich bringen. Was aber würde ein Mann wie Alfons Lüdersen tun? Immerhin war normalerweise er derjenige, der andere warten ließ. Als Anna zwei Stunden später als sonst ins Büro fuhr, tat sie es in dem Bewusstsein, dass sie Lüdersen mit ihrem morgendlichen Lauf eine kleine, hässliche Wunde zugefügt hatte.
Auf dem Flur des Dezernats lief Anna geradewegs Martin Kuhn in die Arme. Er nahm sie zur Seite.
„Sie führen doch gleich eine weitere Befragung von Herrn Lüdersen durch. Ich möchte, dass Sie mich anschließend über die Ergebnisse informieren. Ansonsten bitte keine Störungen, ich habe jetzt einen wichtigen Termin.“
„Geht klar, Chef.“
Als die drei Kommissare kurz darauf das Vernehmungszimmer betraten, registrierte Anna nicht ohne Vergnügen, dass Alfons Lüdersen Mühe hatte, sich zu beherrschen.
Anna Greve überflog kurz den Bericht der Kollegen aus dem Betrugsdezernat, die interessante Details ans Licht gebracht hatten. Der LÜBAU schienen zwei Millionen Euro zu fehlen, Reingewinn, wie sich der Experte ausdrückte. Dieses Geld war im letzten Jahr einfach verschwunden, es konnte auch nach Abzug der Gewinnausschüttungen und Investitionen nicht ausgemacht werden. Irgendjemand musste sich dieses Geld also unter den Nagel gerissen haben, und Anna glaubte, dass dafür nur Lüdersen in Frage kam. Seine Angestellten besaßen kaum die Möglichkeit für eine derartige Transaktion, und auch Esther konnte es nicht gewesen sein. Weshalb sollte sie ihr eigenes Geld zur Seite schaffen?
„Ich habe wirklich wichtigere Dinge zu tun, als hier auf Sie zu warten“, versetzte Alfons Lüdersen schroff.
Günther Sibelius lächelte sein Gegenüber freundlich an. „Dann sollten wir jetzt auch keine Zeit mehr verschwenden.“
„Beweisen Sie Ihre abenteuerlichen Vermutungen endlich, oder lassen Sie mich gehen.“
Günther Sibelius blätterte ungerührt in der Akte herum.
„Olaf Maas hat offensichtlich etwas über Sie in Erfahrung gebracht. Sein Wissen könnte Ihnen gefährlich geworden sein. So gefährlich, dass Sie ihn zum Schweigen gebracht haben.“
„Kommen Sie schon wieder mit dieser Räubergeschichte? Das sind doch alte Kamellen. Dass Sie meine Zeit mit Ihren Vermutungen verschwenden, ist einfach ungeheuerlich! Ich möchte auf der Stelle Ihren Chef sprechen.“
„Das wird leider nicht möglich sein.“
Mit kaum verhohlener Freude klärte Anna Alfons Lüdersen darüber auf, dass Kuhn auf Distanz zu ihm gegangen war. So hatte sie, wenn auch nur für den Moment, seiner schwer erträglichen Arroganz
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