Und jeder tötet, was er liebt
Unkenntlichkeit übergossen mit dicken Soßen aus der Tüte. Als Beilagen türmten sich verkochtes Gemüse und Kartoffeln auf den Tellern. Anna verdrehte die Augen.
„Ekelhaft, wer soll dieses Zeug essen?“
Weber stand vor ihr in der Warteschlange, sein Tablett in den Händen.
„Für mich bitte das Zigeunerschnitzel“, sagte er ungerührt.
Anna entschied sich für das kleinste Übel und bestellte einen so genannten Fitnessteller. Angewidert starrte sie ein wenig später auf das Gewirr aus welkem Salat, Tomaten und grünlich schimmernden Eiervierteln, das von einer dickflüssigen Mayonnaise gekrönt wurde. Weber schaufelte ihr gegenüber seine Portion in sich hinein.
„Es wird schwer werden, die Identität des Toten aus Harburg herauszufinden, der Bagger hat ihn übel zugerichtet. Er könnte das Opfer eines Bandenkrieges sein. Der Chef hatte recht, sieht verdammt nach einer Hinrichtung aus. Der Tote ist zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahren alt, sehr kräftig und einen Meter fünfundneunzig groß. Er hat eine auffällige Tätowierung auf seinem rechten Oberarm, sieht aus wie eine geballte Faust, in der ein Messer steckt. Ich könnte mir vorstellen, dass hier die Mafia im Spiel ist.“
„Eine Art Hinrichtung wie bei Esther Lüdersen? Glauben Sie, da gibt es einen Zusammenhang?“
Weber zuckte die Schultern und stand auf, um ihnen einen Espresso zu besorgen.
„Darauf haben wir noch keine Hinweise“, sagte er, als er zurückkam. Weber schaufelte Unmengen von Zucker in seinen Kaffee und trank die Tasse, wie ein durstiges Kind seinen Apfelsaft, geräuschvoll und in einem Zug leer. Dann sah er sie mit einem braunen Rand um den Mund fragend an.
„Wollen wir?“
Anna grinste. Als sie kurz darauf die Kantine verließen, hakte sie sich im Gehen bei Weber ein.
6
„Anna, komm, setz dich zu mir.“
Wie ein Schuljunge kickte Tom mit dem Fuß gegen den Bezug der Esszimmerbank und lächelte sie spitzbübisch an.
Was sollte das jetzt? Seit Tagen war Tom ihr aus dem Weg gegangen, und wenn sie trotzdem versucht hatte, mit ihm zu reden, war er ihr wortkarg und missmutig ausgewichen.
„Was hältst du davon, wenn wir übers Wochenende an die Nordsee fahren? Nur wir beide, wäre das nicht schön?“ Er nahm Anna zärtlich in den Arm. „Ich habe mit Elisabeth gesprochen. Sie kann auf die Kinder aufpassen.“
„Und was machen wir mit Henry?“
Ein kleiner Silberstreif zeigte sich am Horizont, denn Annas Mutter mochte keine Haustiere. Vielmehr hasste sie den Dreck und die Unordnung, die sie in eine Wohnung hineinbrachten, und Tom würde nie verreisen, ohne den Hund gut versorgt zu wissen. Beim Aussprechen seines Namens kam der Terrier schwanzwedelnd in die Küche gelaufen.
„Für Henry ist auch gesorgt, wir können ihn zu Paula bringen.“
„Hört sich verlockend an.“
Hatte das glaubwürdig geklungen? Sei’s drum, Tom konnte wohl kaum erwarten, dass Anna ihm sofort um den Hals fiel, nur weil er ihr auf einmal den kleinen Finger reichte.
„Ich war nicht besonders unterhaltsam in der letzten Zeit, tut mir leid. Wir könnten in das Haus von Christensen fahren, was meinst du?“
„Werd versuchen, mir einen Tag frei zu nehmen, lass uns morgen noch mal drüber reden, ja?“
Anna ergriff die Flucht ins Wohnzimmer. Dort hatten es sich Ben und Paul nebeneinander auf dem Teppich vor dem Fernseher gemütlich gemacht. Zwischen ihnen stand eine Schüssel mit Erdnüssen, und die Schalen lagen überall verstreut im Raum. Anna musste sich zusammennehmen, um nicht zu schimpfen, schließlich hatte sie hier erst gestern Staub gesaugt.
„Na, Jungs, wie ist die Lage?“
„Pst, wir gucken Jurassic Park‘, ist gerade ganz spannend.“
Sie setzte sich auf den Boden und nahm eine von Pauls Händen zwischen ihre eigenen. Traurig betrachtete sie die schmalen, fast ausgewachsenen Finger ihres Kleinen, sie hatten die gleiche Form wie die von Tom. Anna seufzte, sie brauchte dringend frische Luft.
Tom sah Anna hinterher. Was war nur los mit ihr? Früher hatte sie sich gefreut, wenn er sich etwas einfallen ließ. Jetzt sah es so aus, als ob sie es vermeiden wollte, allein mit ihm zu sein. Schon lange bevor Anna wieder in ihren alten Job eingestiegen war, hatte sie ständig an ihm herumgemäkelt. Nach der Geburt von Ben, noch mehr nach der von Paul schien es so, als erwartete sie von ihm, Fels in der Brandung zu sein. Der Mann, der ihre kleine Welt beschützte. Tom war langsam in die Rolle des Versorgers hineingewachsen
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