Und jeder tötet, was er liebt
und irgendwann hatte es ihm sogar Freude zu machen begonnen. Damals hatte es ausgereicht, dass er einfach nur da war. Heute sollte er an ihrer Beziehung arbeiten, sich auseinandersetzen. Meist wusste Tom überhaupt nicht, was Anna eigentlich von ihm erwartete und wie das gehen sollte. Anna war kompliziert geworden. Auf einmal passte ihr nicht mehr, wie er sie liebte. War er ihr nicht mehr genug?
Draußen war die Welt grau in grau. Sie passte bestens zu Annas Stimmung. Der Himmel, eben noch klar, hatte sich innerhalb von zehn Minuten bedrohlich verdunkelt. Diese Art Wetterwechsel kannte Anna nur von der Nordseeküste. Für die Lüneburger Heide war er etwas Besonderes. Blitze, in kurzem Abstand gefolgt von grollendem Donner, durchzuckten die Luft. Sie lief auf einem einsamen Feldweg in Richtung Hanstedt, keine Häuser, nicht einmal ein Wanderer war in Sichtweite. Anna fühlte ein Ziehen im Magen und überlegte kurz, ob es besser wäre, umzukehren. Henry neben ihr schien der Regen und das Gewitter nichts auszumachen. Er jagte einer für sie unsichtbaren Spur hinterher, kläffte und sah begeistert zu ihr auf. Augenblicklich verschwand der Druck in Annas Magen. Sie lachte, reckte das Gesicht dem Himmel entgegen und spürte den Regen prickelnd auf ihrer Haut.
Sie hatte sich vorgenommen, heute Abend eine magische Grenze zu durchbrechen. Sie wollte von Hanstedt nach Helmstorf laufen, eine Strecke von gut fünfzehn Kilometern. Dennoch betrieb Anna das Laufen ohne Wettkampfambitionen, nie wäre sie auf die Idee gekommen, sich mit anderen zu messen. Ab und zu joggte sie ein paar Kilometer gemeinsam mit Tom, vor allem weil er es sich wünschte. Doch obwohl sie wenig miteinander sprachen, störten sie allein schon die Atemgeräusche ihres Mannes. Für Anna war das Laufen Meditation, dazu musste sie ungestört sein. Unter ihren Schritten flog die Landschaft vorbei und die Gedanken begannen zu fließen. Jan hatte sich noch nicht gemeldet, vielleicht war es sogar am besten, wenn sie sich eine Zeit lang nicht sähen. So lange zumindest, bis ihre Gefühle für ihn wieder klarer waren oder sie einen Weg gefunden hatte, sie zu verbergen. Ihre Beine fraßen die Strecke Meter für Meter und als Anna aufsah, war sie schon beinahe am Ziel angekommen. Der Regen hatte sie völlig durchnässt, also steuerte sie am Ortsausgang von Helmstorf auf eine Telefonzelle zu, damit Tom sie abholen kam.
„Sie haben sich verändert, Anna.“ Weber sprühte Wassernebel auf seine mickrigen Pflanzen, bis die Aktendeckel sich wellten.
„Früher waren sie sehr karriereorientiert.“
„Und das ist schlimm, oder wie?“
„Nein, natürlich nicht, ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich wollte eigentlich sagen, dass Sie früher wenig von dem bemerkt haben, was um Sie herum vorging. Sie wirkten unnahbar und sprunghaft, irgendwie überlastet.“
„Auf dem Sprung bin ich nach wie vor. Wie lange sollen wir hier eigentlich noch die Blumenklinik spielen?“
„Es war sehr schwer, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.“
Anna hatte jetzt keine Lust auf ein persönliches Gespräch mit dem Nacktmulch. Sie hatte genug eigene Probleme. Bestimmt würde er ansonsten anfangen, über seine schwierige Ehe zu reden. Darüber, dass er zwar sein Kind, jedoch nicht seine Frau liebte, die seine Blumen sterben ließ, und so weiter.
„Sie sind erwachsen geworden.“
„Ich nehme an, das war als Kompliment gemeint, also vielen Dank.“
Anna sah auf die große Bürouhr, die an der Wand gegenüber hing. Es war kurz nach zehn.
„Unser Besuch scheint sich zu verspäten.“
Gegen 10:30 Uhr klopfte es an die Tür ihres Büros. Als er eintrat, reagierte Holger Maiwald mit einem spöttischen Lächeln auf Annas Blick, der eben etwas zu lange auf seiner wohlgeformten Hinteransicht verweilt hatte.
Weber musterte den Bodyguard. Mit seinem knittrig weißen Leinenhemd, den abgetragenen Jeans und dem offenen langen Haar hatte er etwas von einem Tarzandarsteller aus einem alten Schwarz-Weiß-Film. Der Held, gefilmt bei seinem Ausflug in die Stadt. Seltsam, dass solche Kerle eine Anziehung selbst noch auf einige der intelligentesten und schönsten Frauen ausübten. Gehörte Anna Greve etwa auch zu diesen Frauen?
„Haben Sie einen Kaffee für mich? War eine anstrengende Nacht.“
Weber schaute zu Anna hinüber.
„Meine Kollegin hat Ihnen ja gestern schon erklärt, worum es geht“, sagte er, als er Maiwald die Tasse herüberreichte.
„Wie heißt sie eigentlich mit
Weitere Kostenlose Bücher