Und jeder tötet, was er liebt
Bekannter hat mir die Samen aus dem Urlaub mitgebracht, meinte aber gleich, es wäre ziemlich unwahrscheinlich, dass in unseren Breiten etwas daraus wachsen würde. Ich habe sie trotzdem eingepflanzt. Dachte auch schon, dass daraus nie etwas werden würde, als sich ein rundes Blatt aus der Erde gewühlt hat und zu wachsen anfing. Das Greiskraut ist die erste Pflanze in meiner Sammlung gewesen, meine Königin.“
Anna verkniff sich ein Grinsen.
„Ich besorge Ihnen eine neue Samentüte, Margeriten sind doch auch ganz schön.“
Weber ging zur Fensterbank zurück und drehte eine kleine, unscheinbare Pflanze, die Anna eben getragen hatte, zur Sonne. Das einzig Bemerkenswerte an ihr war, dass sie aus einem Stück Fels herauszuwachsen schien. Anna strich gerade über eines der obszön fleischigen Blätter.
„Lassen Sie bloß die Finger von meiner Aeonium Decorum. Ist mein letzter Lokalendemit von der Insel.“
„So groß ist mein Appetit auf Grünzeug nun auch wieder nicht.“
„Im nächsten Urlaub werde ich nicht mit Rita und dem Jungen wegfahren. Stattdessen baue ich mir ein abschließbares Gewächshaus im Garten.“
Weber lächelte verschmitzt, ihm schien diese Vorstellung sehr zu gefallen.
„So, ich mach mich jetzt auf den Weg zu Dr. Severin. Bis nachher, Frau Greve.“
Die nächsten Stunden verbrachte Anna am Schreibtisch. Einen nach dem anderen telefonierte sie die Fahrzeughalter auf ihrer Liste ab.
„Guten Tag, Anna Greve vom LKA Hamburg. Es geht um den Mercedes mit der amtlichen Zulassung HH-WM-487. Spreche ich mit dem Fahrzeughalter?“
„Moment, ich gebe Sie weiter.“
Stimmengewirr in der Leitung, dann eine Männerstimme.
„Ja, Behrend, worum geht es?“
„Sie sind der Besitzer des Mercedes HH-WM-487?“
„Und Sie von der Kripo?“
„Ja, ich hoffe, das hat Ihnen keinen Schrecken eingejagt.“ Anna lächelte in den Telefonhörer. „Herr Behrend, es geht um die Nacht vom 10. auf den 11. Juni, das war der Pfingstsamstag. Ich hätte gern gewusst, wo Ihr Auto zu dieser Zeit gewesen ist.“
„Mhm, da muss ich nachdenken. Ich werde meine Frau fragen, die hat einen Kopf für solche Sachen. Ich rufe Sie zurück.“
So ähnlich wie dieses verliefen auch die meisten anderen Gespräche. Kaum jemand konnte sich noch auf Anhieb daran erinnern, was er am Pfingstsamstag gemacht hatte. Drei Halter waren nicht zu erreichen, zwei weitere wollten am Telefon keine Auskunft geben. Anna blickte auf den leeren Schreibtisch ihr gegenüber, Weber war noch immer in der Rechtsmedizin. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und starrte in die Fensterscheibe, in der sich ihr Gesicht widerspiegelte. Dann wurden ihre Züge von einem anderen Gesicht überlagert. Anna drehte sich um. War Jan tatsächlich hier in diesem Raum? Natürlich nicht, sie musste endlich aufhören mit ihren Tagträumereien. Sie schloss die Augen, hatte das Gesicht von Jan aber noch immer vor sich. Nimm ihn dir. Zu gern würde sie wieder einmal lachen, bis ihr der Bauch wehtat, fröhlich und unbeschwert zusammen sein mit einem Mann. So wie früher mit Tom. Anna griff zum Telefon und hinterließ eine Nachricht für Jan. Schon als sie auflegte, bereute sie den Anruf, und das nicht nur, weil sie wahrscheinlich ziemlich konfus geklungen hatte. Warum konnte sie nicht alles so lassen, wie es war? Nimm ihn dir? Zum Teufel mit Paulas klugen Ratschlägen. Jan war immerhin der Bruder von Tom, nicht irgendein Blümchen am Wegesrand. Wo die Zigaretten nur wieder lagen? Sie kramte in ihrer Handtasche, entdeckte dabei die Visitenkarte von Lüdersens Anwalt und entschied sich gegen eine Pause in der Kantine und für die Arbeit.
Anna hatte damit gerechnet, persönlich erscheinen zu müssen, doch Dr. Baumhöfner gab telefonisch bereitwillig Auskunft über die Vermögensverhältnisse von Esther Lüdersen. Wie es aussah, erbte Alfons Lüdersen nicht nur die Firma seiner Frau, sondern auch ein mehrere Millionen schweres Barvermögen, das Haus in Nienstedten und ein weiteres am Starnberger See.
„Gibt es noch andere Begünstigte?“
„Ein Herr Olaf Maas erhält eine einmalige Zahlung von hundertfünfzigtausend Euro und für den Fall, dass er sich entschließt, einen Beruf zu erlernen, eine monatliche Unterstützung von achthundert Euro für die Dauer der Ausbildung.“
Eine noble Geste; aber Grund genug für Maas, den Mord an seiner mütterlichen Freundin zu planen? Alfons Lüdersen hingegen war durch den Tod seiner Frau zu einem reichen Mann
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