Und jeder tötet, was er liebt
Esthers blutverschmiertem Fingerglied in dieser Pappschachtel. Er wusste, dass er es hier mit einem mächtigen Feind zu tun hatte. Warum hatte sich dieser Teufel noch immer nicht gemeldet? Er fühlte sich wie eine Marionette inmitten eines großen, dunklen Spieles, dessen Inhalt er nicht kannte. Wer bestimmte die Regeln, und welche Rolle sollte er übernehmen? Normalerweise wusste Alfons Lüdersen, vor wem er sich in Acht nehmen musste. Er hatte sich im Laufe seines Lebens viele Feinde geschaffen. Doch dieser hier war anders und von einer Bosheit, die ihn selbst noch bis in den Schlaf hinein verfolgte. Seit dem Verbrechen an Esther wachte er oft mitten in der Nacht auf. Böse Träume quälten ihn, an deren Inhalt er sich am Morgen aber nicht mehr erinnern konnte. Das war heute früh anders gewesen, er sah die Gestalt noch immer klar vor seinem inneren Auge. Mit einem scharfen Messer hatte der Mann vor dem Bett gestanden und ihn angestarrt, während er schlief. Dann hatte er plötzlich nach seiner Hand gegriffen, sie wie in einem Schraubstock festgehalten und begonnen, ihm einen Finger abzuschneiden. Dabei hatte er mit monotoner Stimme auf ihn eingeredet, dass es überhaupt nicht wehtäte. Lüdersen hatte versucht, sich aus dieser Umklammerung zu befreien, doch es war unmöglich gewesen. In Todesangst hatte er zu schreien begonnen und war schweißgebadet aufgewacht. Alfons Lüdersen hatte für Träume und Eingebungen, überhaupt für alles, was sich jenseits der berührbaren Welt befand, nichts übrig. Er gehörte nicht zu denjenigen, die sich von Betrügern auf dem Jahrmarkt ihre Zukunft aus dem Kaffeesatz deuten ließen. Er war ein Mann, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Die vergangene Nacht war eine leichte Schwäche gewesen, weiter nichts. Er nahm sich vor, Schlaftabletten zu besorgen. Sie würden ihm helfen, die Nachtruhe der nächsten Zeit sichern. Doch irgendwo in seinem Kopf machte sich eine Frage breit: Wer steckte hinter diesem teuflischen Plan? Wem konnte er noch trauen?
Frau Schultes vertraute Stimme tönte durch die Sprechanlage und riss ihn aus seinen Überlegungen. „Die Herren sind jetzt eingetroffen. Soll ich sie warten lassen?“
„Bitten Sie sie herein.“
Lüdersen stand auf, straffte seine Schultern und machte ein paar Schritte in Richtung Tür.
„Ein Gespräch für Sie, Herr Weber.“ Antonia Schenkenberg stellte durch.
„Magnus hier, es geht um den Toten aus Harburg. Hab sein Bild in der Zeitung gesehen, er kommt mir bekannt vor.“
Webers Erwartungen hielten sich in Grenzen, denn seit der Veröffentlichung des Fotos waren schon viele Anrufe dieser Art bei ihm eingegangen. Es schien jede Menge verquere Leute in der Stadt zu geben, die aus Langeweile oder einfach, weil sie sich wichtig machen wollten, Geschichten erfanden. Manchmal jedoch lohnte es sich, einer Information nachzugehen. Aber dieses Nachhaken kostete Zeit, die ihnen eigentlich nicht zur Verfügung stand. Martin Kuhn hatte ihn heute bereits schon zweimal angerufen, dem Chef saß nach der Veröffentlichung des Fotos nicht nur die Presse im Nacken. Und er gab den Druck an Anna und Weber weiter.
„Ich habe eine Bäckerei in Hetlingen“, fuhr der Mann fort. „Das ist am Deich, gleich hinter Wedel. Fremde Gesichter fallen bei uns sofort auf. Ab und zu verirrt sich ein Vertreter in meinen Laden, aber die kann man schon an ihrer Kleidung erkennen. Der Mann aus der Zeitung kam zwei Wochen lang fast täglich und kaufte Brötchen und Brot, manchmal Marmelade, eingeschweißte Wurst und so weiter. Dann ist er von einem Tag auf den anderen weggeblieben.“
„Vielleicht hat er Urlaub in der Gegend gemacht.“
„Wie ein Tourist sah der nicht aus, und dann so’n Akzent.“
„Wieso, was meinen Sie, war der Mann Ausländer?“ Weber winkte Anna Greve zu sich, damit sie mithörte.
„So genau kenne ich mich nicht aus, aber ich tippe auf einen Osteuropäer.“
„Wir würden uns gern ausführlicher mit Ihnen darüber unterhalten, Herr Magnus. Wir kommen vorbei.“
„Sie haben übrigens recht, wir müssen wissen, was da läuft, wir werden mit Kuhn sprechen“, sagte Weber zu Anna Greve als sie zusammen über den Parkplatz vor dem Dienstgebäude gingen. „Die Gerüchte über seine beruflichen Ambitionen lassen wir dabei besser außen vor und konzentrieren uns ganz auf den Fall Esther Lüdersen.“
Anna nahm ihm die Autoschlüssel aus der Hand und lächelte.
„Ich fahre, dann können Sie die Landschaft
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