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Und jeder tötet, was er liebt

Und jeder tötet, was er liebt

Titel: Und jeder tötet, was er liebt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Westendorf
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holen und dem man vertrauen konnte.
    „Kommen Sie, Lukas.“ Michael Antonowich legte einen Arm um Webers Schulter. „Meine Frau hat eine Kleinigkeit für uns vorbereitet.“
    Kurz darauf saßen sie in einer kleinen Wohnung in Sankt Petersburg im sechsten Stock eines Hochhauses und aßen einen köstlichen Auflauf aus Kartoffeln, Lauch, Karotten und geräuchertem Speck. Dazu gab es einen gehaltvollen Rotwein, der seine Wirkung nicht verfehlte. Weber war seit heute früh auf den Beinen. Für einen Mittagsimbiss hatten sie sich keine Zeit genommen, sondern waren lieber zu Fuß durch die Stadt geschlendert. Jetzt hatte er einen Bärenhunger und langte ordentlich zu. Alina Antonowich war nicht nur eine sehr schöne Frau, sondern auch eine gute Köchin. Nach dem Essen holte Michael eine Flasche Wodka und drei Gläser aus der Küche und stellte sie auf den Tisch. Weber sah sich um. Die Einrichtung des Wohnzimmers bestand aus zwei Sofas mit einem Tisch, einem Schrank und der Essecke. Das Mobiliar wirkte zusammengewürfelt und improvisiert, nichts passte wirklich zusammen. Michael Antonowich hatte Webers Blicke aufgefangen.
    „In Sankt Petersburg ist es schwer, eine vernünftige Wohnung zu bekommen“, sagte er. „Jedem Einwohner stehen statistisch gesehen nur zehn Quadratmeter Wohnfläche zu. Da liegen wir mit unseren Zimmern sogar über dem Durchschnitt. Ich wette, Sie wohnen in einem großzügigen Haus.“
    „Es ist ein kleines Haus“, antwortete Weber bescheiden. „Und es steht auch nicht allein, sondern in einer Reihe mit anderen Häusern, aber verglichen mit Ihnen haben wir wirklich viel Platz.“
    „Wir leben auf zweiundvierzig Quadratmetern mit vier Personen. Es gibt diesen Raum, die Küche, das Bad und das Schlafzimmer.“
    Weber war irritiert. „Und was machen Sie, wenn Sie ... Sie wissen schon ... ich meine, die Kinder sind doch immer dabei.“
    Michael Antonowich zwinkerte Weber zu.
    „Da gibt es nun wirklich Möglichkeiten genug. Später, wenn unsere Kinder größer sind, werden wir uns eine Bettcouch anschaffen.“
    „In Deutschland gibt es nicht viele Leute, die so beengt leben müssen, wenn Vater und Mutter einer geregelten Arbeit nachgehen.“
    „Im Westen hätten wir bestimmt bessere Chancen, könnten mehr verdienen, aber wir wären allein. Es ist nicht gut, entwurzelt zu leben.“ Michael Antonowich machte eine lange Pause. „Es geht nicht immer nur ums Haben“, sagte er schließlich. „Einer Ihrer klugen Köpfe hat sogar ein Buch über dieses Thema geschrieben.“
    Weber musste sich eingestehen, dass er nicht wusste, von wem hier die Rede war.
    „Ich bin in der Literatur nicht sonderlich zu Hause“, entgegnete er.
    „Er heißt Erich Fromm und wurde in Deutschland geboren, ich glaube, in Frankfurt am Main.“
    „Ach so.“
    Weber fiel dazu beim besten Willen nichts ein. Er hatte noch nie von diesem Herrn Fromm gehört — ein Umstand, der ihm jetzt ziemlich peinlich war. Er räusperte sich. „Vorhin, bei unserem Verhör mit Holger Maiwald, dachte ich, dass Sie sein ganzes Gerede über Bezahlung gekränkt haben muss. Sie sind bestimmt kein schlechterer Polizist als ich, gewiss ebenso wenig wie Ihre Kollegen, die sich von Leuten wie Maiwald ins reiche Europa ködern lassen. Und trotzdem verdienen Sie in Ihrem gefährlichen Job nicht einmal so viel wie bei uns zu Hause der schlechtbezahlteste Aushilfsarbeiter.“
    „Verglichen mit meinen Landsleuten bekomme ich einen guten Lohn. Und er wird ausbezahlt, was zurzeit nicht viele Leute von sich behaupten können. Nehmen Sie nur die Soldaten oder die Behördenangestellten, die warten zum Teil seit einem halben Jahr auf ihren Lohn.“
    „Ich weiß viel zu wenig über Ihr Land.“
    „Sie kommen aus Ostdeutschland, Sie wissen eine Menge. Haben Sie schon einmal etwas von Čechov gelesen?“
    „Ja, in der Schule, aber es hat mich nie sonderlich interessiert.“
    Nicht schon wieder. Lukas Weber hatte kein Interesse an Büchern, und er glaubte auch nicht, dass er daran noch etwas ändern wollte.
    „Hier, versuchen Sie es noch einmal.“ Michael Antonowich war aufgestanden und hatte ein Buch aus dem Regal genommen. „Es sind kurze Geschichten, bei uns in Russland werden sie Meistererzählungen genannt. Čechov ist beinahe hundert Jahre tot, aber sein Werk ist so, als hätte er es gestern geschrieben.“
    Weber war beschämt. Warum hatte er nur vergessen, ein Gastgeschenk mitzubringen?
    Michael Antonowich beobachtete ihn mit amüsiertem Blick.

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