Und Jimmy ging zum Regenbogen
dreizehn Monate später sollten drei Dokumente fehlen, noch dreizehn Monate später sollten sie flehende Briefe an Pfarreien, Standesämter und Friedhofsverwaltungen schreiben mit der Bitte um beglaubigte Abschriften von Dokumenten, die sie benötigten, damit sie die arische Abstammung irgendwelcher Menschen beweisen konnten, die seit 150, 160 oder 180 Jahren tot waren.
Sie arbeiteten den ganzen Nachmittag. Valerie trieb zur Eile an. Sie hatte die Verzweiflung von gestern überwunden, ihr Gesicht war von Energie, Kraft, ja Rücksichtslosigkeit gezeichnet. Sie tippte Brief um Brief. Weiter! Weiter! Sie mußten weiterkommen! Es war keine Zeit zu verlieren!
Um viertel neun Uhr abends fuhr sie plötzlich hoch.
»Was ist los«? rief Landau erschrocken.
»Nachrichten um acht. Ganz vergessen. Sonntag abend spricht immer Paul. Wir machen eine Pause, ja? Sei lieb Martin …« Sie sah ihn lächelnd an.
»Immer dasselbe«, knurrte er. Aber er nahm seinen Wintermantel, seinen Hut und seinen Schal und verschwand in den kalten Magazingewölben.
Valerie räumte schnell den ›Minerva 405‹ frei, schaltete ihn ein, setzte sich vor den Apparat, warf die Wolldecke über ihn und sich und drehte an dem Skalenknopf, bis sie die richtige Wellenlänge eingestellt hatte. Die Sendung lief bereits, und es war nicht die Stimme, die sie für jene Paul Steinfelds hielt und die niemals Paul Steinfelds Stimme war – es war die tönende Stimme Thomas Manns, der die neueste seiner in regelmäßigen Abständen ausgestrahlten Ansprachen an die ›Deutschen Hörer‹ verlas. »… Jetzt ist man bei der Vernichtung, dem maniakalischen Entschluß zur völligen Austilgung der europäischen Judenschaft angelangt. ›Es ist unser Ziel‹, hat Goebbels in einer Radio-Rede gesagt, ›die Juden auszurotten. Ob wir siegen oder geschlagen werden, wir müssen und werden dieses Ziel erreichen. Sollten die deutschen Heere zum Rückzug gezwungen werden, so werden sie auf ihrem Weg den letzten Juden von der Erde vertilgen.‹ – Kein vernunftbegabtes Wesen kann sich in den Gedankengang dieser verjauchten Gehirne versetzen. Wozu? fragt man sich. Warum? Wem ist damit gedient? Wird irgend jemand es besser haben, wenn die Juden vernichtet sind? Hat der unselige Lügenbold sich am Ende selber eingeredet, der Krieg sei vom ›Weltjudentum‹ angezettelt worden, es sei ein Judenkrieg und werde für und gegen die Juden geführt? Glaubt er, das ›Weltjudentum‹ werde vor Schrecken den Krieg gegen die Nazis untersagen, wenn es erfährt, daß deren Untergang den Untergang des letzten Juden in Europa bedeuten wird? Die Niederlage hält Gundolfs mißratener Sohn nachgerade für möglich. Aber nicht allein werden die Nazis zur Hölle fahren, sie werden Juden mitnehmen. Sie können nicht ohne Juden sein. Es ist tiefempfundene Schicksalsgemeinschaft. Ich glaube freilich, daß die zurückflutenden deutschen Heere an anderes zu denken haben als an Pogrome. Aber bis sie geschlagen sind, ist es irrsinniger Ernst mit der Ausrottung der Juden. Das Ghetto von Warschau, wo fünfhunderttausend Juden aus Polen, Österreich, Tschechoslowakien und Deutschland in zwei Dutzende elende Straßen zusammengepfercht worden sind, ist nichts als eine Hunger-, Pest- und Todesgrube, aus der Leichengeruch steigt. Fünfundsechzigtausend Menschen sind dort in
einem
Jahr, dem vorigen, gestorben. Nach den Informationen der polnischen Exilregierung sind alles in allem bereits jetzt siebenhunderttausend Juden von der Gestapo ermordet oder zu Tode gequält worden, wovon siebzigtausend allein auf die Region von Minsk in Polen entfallen.
Wißt ihr Deutsche das? Und wie findet ihr es …?
«
50
»Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Dr. Karl Friedjung mit böser, kalter Stimme. Er saß hinter einem großen Arbeitstisch in seinem Empfangszimmer im ersten Stock der Staatsschule für Chemie auf der Hohen Warte. Der Novembertag war trüb, es regnete in dichten, heftigen Schlieren. Wind trug sie wie Schleier vor sich her. »Kein einziges Wort glaube ich Ihnen, Frau Steinfeld, das wollen wir gleich einmal festhalten, ja?«
Valerie biß sich auf die Lippe. Sie saß dem Direktor der Anstalt gegenüber auf einem unbequemen, harten Stuhl. Neben ihr saß der große, schlanke Dr. Forster. Valerie trug ein blaues, zweiteiliges Kleid mit Faltenrock, die Männer trugen zweireihige Anzüge mit den damals modernen, besonders breiten, wattierten Schultern. Friedjungs Empfangszimmer war groß und spartanisch
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