Und keiner wird dich kennen
noch lange nicht. Sie stehen vor einem Bürogebäude in München in ihren grauen und schwarzen Klamotten und Maja schaut sich nervös um. Niemand da, diese Gegend ist um diese Uhrzeit eine windgepeitschte, betonierte Einöde und selbst die hartgesottensten Workaholics sind längst daheim. Stella tippt auf einem Zahlenfeld neben der Tür einen Code ein, ein Piepen erklingt und die Tür lässt sich öffnen.
»Wie hast du das rausgefunden?«, flüstert Maja.
»Leute beobachtet, die hier arbeiten. Die meisten haben es eilig und ganz viele Sachen im Kopf, denen ist es egal, wer hinter ihnen steht.« Stella klingt gut gelaunt. »Außerdem nehmen diese Leute Mädchen nicht ernst. Wahrscheinlich dachten sie, ich wollte hier meinen Papa bei der Arbeit besuchen, oder etwas in der Art.«
Maja fragt sich, was Stella eigentlich vorhat. Jetzt sind sie im Eingangsbereich des Gebäudes, der hohe Raum ist so leer, dass ihre Stimmen ein Echo hinterlassen, die Sohlen ihrer Sneakers quietschen leicht auf dem polierten Granitboden. Einmal um die Ecke biegen, dann stehen sie vor den Aufzugtüren aus gebürstetem Stahl. Stella drückt auf den Knopf.
»Fahren wir hoch? Zum Dach?«, fragt Maja ratlos. Ein schwarzer Rucksack hängt über Stellas Schulter, was hat sie da drin? Einbruchswerkzeug? Das alles riecht nach Ärger, aber Maja schiebt den Gedanken weg, die kribbelige Erwartung in ihr ist zu stark. Sie fühlt sich klar und hellwach, vollkommen lebendig.
»Wenn du willst, können wir auch bis zum Dach fahren. Warum nicht.« Stella grinst breit, ihre Wangen sind gerötet und ihre Augen glänzen. Neben dem Aufzug besteht ein Teil der Wand aus einem deckenhohen Spiegel, aber Stella betrachtet sich nicht, ihr Blick ist auf die Fahrstuhltür gerichtet.
Mit einem leisen Pling kündigt sich der Aufzug an, die Türen gleiten auseinander. Gespannt wartet Maja, was jetzt passieren wird.
Die Wände des Aufzugs sind aus gebürstetem Stahl, drinnen gibt es noch mehr Spiegel. Maja will einsteigen, doch Stella hält sie am Ärmel zurück. »Noch nicht.«. Sie wartet ab, bis sich die Türen wieder geschlossen haben.
»Äh, und was jetzt?«, fragt Maja ratlos.
»Jetzt müssen wir noch ein Stockwerk weiter hoch«, erwidert Stella, öffnet die Tür zum Treppenhaus und sprintet die Stufen hoch. Maja folgt ihr.
Ein Stockwerk weiter oben hält Stella an, geht in die Hocke und öffnet mit raschen, präzisen Bewegungen ihren Rucksack. Zum Vorschein bringt sie daraus ein Werkzeug, das ein bisschen so aussieht wie eine Schneeflocke aus Metall. »Das ist ein Universalschlüssel«, erklärt Stella und kommt damit Majas Frage zuvor. »Eigentlich gedacht für Hausmeister, Techniker oder Rettungskräfte. Aber auch für uns ist er sehr nützlich.«
»Woher hast du den denn?«
Doch Stella hört ihr gerade nicht zu, sie steckt eine Zacke der Schneeflocke in das Bedienfeld des Aufzugs ... und mit einem leisen Klack entriegeln sich die Türen. Maja bleibt der Mund offen stehen. Stella drückt die Aufzugtüren mit den Händen auseinander. Auf der anderen Seite ist keine Kabine zu sehen, in die man einsteigen kann ... sondern nur Dunkelheit.
»Hereinspaziert!«, sagt Stella fröhlich.
Maja bringt kein Wort heraus. So langsam dämmert ihr, was Stella vorhat – meint sie das ernst?
»Du bist ja total crazy!«, keucht sie, und Stellas Lachen echot im Aufzugschacht. Sie ist jetzt in der Dunkelheit verschwunden, Maja hört ihre Füße auf dem Dach des Aufzugs. Dann streckt sich ihr aus der dunklen Öffnung eine Hand entgegen. »Kommst du?«
Maja zögert, zum ersten Mal spürt sie die feinen, eisigen Ausläufer der Angst durch ihren Körper kriechen. Aber dann gibt sie sich einen Ruck. Stella hat das offensichtlich schon mal gemacht, und sie hat es überlebt, also kann es nicht so schlimm sein. Sie begegnet ihrem eigenen Blick im Spiegel – ihre Augen sind groß und dunkel, das Gesicht ein wenig blass, die noch immer ungewohnt blonden Haare verwuschelt von ihrer Wintermütze. Alissa würde jetzt keinen Rückzieher machen, oder?
Alissa nimmt Stellas schmale, sehnige Hand und lässt sich auf das Dach des Aufzugs ziehen. Und dann steht Maja plötzlich im Halbdunkel auf einer Metallplattform voller Schrauben und elektrischer Leitungen. Die Luft riecht nach Staub und Metall, wie in einem Keller voller Maschinen. Neben ihr führen die daumendicken stählernen Kabel nach oben, immer weiter nach oben wie die magische Bohnenranke, an der Jack im Märchen in den
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