Und kurz ist unser Leben
Cutteslowe-Kreisel fuhr,
wo er in Richtung Norden, zum Polizeipräsidium in Kidlington, abbog. Keine
Probleme. Der Hauptverkehrsstrom ging in die Gegenrichtung, nach Oxford hinein.
Er freute sich auf den Tag.
Natürlich wusste er um die
Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit Morse, andererseits war nicht zu
leugnen, dass die jahrelange enge Verbindung mit dem bärbeißigen, knickerigen,
sonderbar verletzlichen Chef sein Leben auch sehr bereichert hatte.
Jetzt stand nun ein neuer Fall
in Aussicht, ein Fall, der ein dickes, pralles Rätsel war — wie die erste Seite
eines Romans von Agatha Christie.
Lewis hatte deshalb nach seinem
Gespräch mit Strange äußerst gewissenhaft das Archivmaterial gelesen, soweit es
ihm für seine Zwecke Gewinn bringend erschien, und als er jetzt durch den
sonnigen Sommermorgen fuhr, hatte er ein ziemlich klares Bild der Fakten und
deren bislang erfolgloser Interpretation vor Augen.
Von Anfang an hatte es mehrere
Theorien gegeben — unter anderem auch eine Einbruchstheorie —, die ihm aber
alle nicht so recht einleuchten wollten. So gab es zum Beispiel keinerlei
Anzeichen dafür, dass ein Kampf stattgefunden hatte. Und Yvonne Harrison war,
obgleich man sie nackt, geknebelt und mit Handschellen gefesselt aufgefunden
hatte, allem Anschein nach weder vergewaltigt noch gefoltert worden. Auch hatte
man ihr wohl die Kleider nicht gewaltsam vom Leib gerissen, denn der knappe
Spitzen-BH, die ebenso knappen Spitzenhöschen, die schwarze Bluse und der weiße
Minirock waren ordentlich zusammengelegt vor ihrem Bett gefunden worden.
Hatte sie dort völlig nackt
gelegen, als ein Eindringling sie überrascht hatte? Zum Schlafengehen war es
reichlich früh gewesen, und falls sie um diese Zeit tatsächlich schon im Bett
gelegen und ein Klingeln an der Haustür oder sonstige Geräusche gehört hatte,
schien es recht unwahrscheinlich, dass sie einem Einbrecher oder (unbekannten?)
Besucher gegenübergetreten wäre, ohne erst die Blößen eines dem Vernehmen nach
überaus ansehnlichen Körpers zu bedecken. Diese und ähnliche Erwägungen hatten
die Polizei zu Spekulationen veranlasst, der Mörder könne mit Mrs. Harrison gut
— vielleicht zu gut? — bekannt gewesen sein, habe möglicherweise in der
unmittelbaren Nachbarschaft oder zumindest ganz in der Nähe gewohnt. Ihr Mann
war häufig verreist, und von den erstaunlich unkooperativen Dorfbewohnern hätte
es wohl wenige gewundert, wenn seine Frau hin und wieder ihr Ehegelübde
bequemerweise vergessen hätte. Die meisten Einheimischen waren zwar nicht
gewillt gewesen, konkrete Aussagen zu machen, legten aber durch ihre ganze
Haltung die Vermutung nahe, dass sie stark der «Liebhabertheorie» zuneigten.
Doch es hatten sich, obwohl die Harrisons häufig mehr als nur geographisch auf Distanz
zueinander gegangen waren, keine Hinweise auf etwaige Scheidungsabsichten
gefunden.
Nachdem Frank Harrison dank
eines hieb- und stichfesten (wenn auch äußerst ungewöhnlichen) Alibis aus dem
Kreis der Verdächtigen ausgeschieden war, hatten auch die bemühtesten und
gewissenhaftesten Untersuchungen keine tragfähige Basis für weitere definitive
Ermittlungen ergeben, wie es in einem der abschließenden Berichte hieß.
Lewis lächelte vor sich hin,
als er rechts in Richtung Präsidium abbog. Für Morse würde sich sehr bald eine
«tragfähige Basis für weitere definitive Ermittlungen» ergeben. Selbst wenn es
die falsche Basis war.
Morse hatte schon oft falsch
gelegen. Anfangs.
Aber das war nicht weiter
schlimm.
Denn zum Schluss hatte Morse
fast immer Recht gehabt.
Kapitel
12
Gleichselbst um dem Gebein noch
Schutz vor Schimpf zu finden,
Steht nahbei ein zerbrechlich
Denkstein aufgebaut, Mit Holperreim und stillosen Skulpturn die schwinden,
Fleht er um Seufzer der
Vorbeigehnden als Maut.
(Thomas Gray, Elegy Written
in a Country Churchyard)
Nachstehend ein Auszug aus der
Times vom Montag, dem 20. Juli 1998.
MORD IM DORF
Zwei
Hellseher und ein Hypnotiseur sind bereits mit dem Fall befasst, und auch die
Sendung Noch immer ein Geheimnis des Fernsehsenders ITV hat sich seiner
angenommen. Seine Aufnahme in die erste Liga klassischer ungelöster Fälle — als
da wären das spurlose Verschwinden von Lord Lucan, das Schicksal des Rennpferds
Shergar oder die Suche nach dem Heiligen Gral — steht allerdings noch aus. Auch
wenn der Mord an Yvonne Harrison schon lange nicht mehr in den Schlagzeilen
auftaucht, wird uns
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