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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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wird, auf
einem dauerhafteren Gedenkstein auf dem Friedhof von St. Mary den Namen der
Ermordeten richtig zu schreiben.

Kapitel
13
     
    Ponderando sunt testimonia, non numerando.
    (Zeugenaussagen
müssen gewichtet, nicht gezählt werden.)
     
    Die meisten Mitarbeiter im
Polizeipräsidium Thames Valley pflegten sich gierig auf Zeitungsausschnitte zu
stürzen, in denen von ihrer Kompetenz beziehungsweise angeblichen Inkompetenz
die Rede war. Lewis war prompt von dem Artikel in der Times in Kenntnis
gesetzt worden, den er sich schnell zu Gemüte geführt hatte — sehr viel
schneller wahrscheinlich als Morse, wenn er, Lewis, ihn dem Chief Inspector um
halb neun vorlegen würde. Der Chief war ein berüchtigter Langsamleser. Die
einzige Ausnahme bildeten seine geliebten Kreuzworträtsel.
    Lewis erinnerte sich recht gut
an den Fall und vor allem an den Frust und die Enttäuschung seiner Kollegen,
als eine Spur nach der anderen in einer Sackgasse endete. Auch er hatte oft
genug Frust, selten aber lang anhaltende Enttäuschung erlebt, und dafür war er
Morse sehr, sehr dankbar.
    Meist drehte sich, wie Lewis
nur zu gut wusste, bei einer Mordermittlung alles um die Bestätigung von
Verdachtsmomenten. Eine Spur wurde verfolgt, ein Verdächtiger eingekreist, ein
Alibi überprüft, das Pro und Kontra eines Motivs erwogen, eine Reaktion auf die
Vernehmung als muffig, unverschämt, unaufrichtig, ängstlich interpretiert.
Daraus entstand dann wie aus Teilen eines Puzzles ein hinlänglich erhellendes
Bild, und auf dieser Basis konnte eine formelle Anklage erhoben, der Vorgang an
die Staatsanwaltschaft geschickt, der Beschuldigte in U-Haft genommen und
weitervernommen und manchmal zusätzliches Beweismaterial zu Tage gefordert
werden. Voraussetzung war natürlich, dass sich inzwischen nichts ergab, was die
Hypothese der Polizei widerlegte, dass nämlich höchstwahrscheinlich der
Verhaftete Dreck am Stecken hatte.
    Das war die übliche
Vorgehensweise.
    Aber nicht, wenn Morse den Fall
bearbeitete.
    Aus unerfindlichen Gründen
hatte Morse für das herkömmliche Verfahren der Beweisanhäufung nichts übrig.
Nur selten — wenn überhaupt — hatte Lewis es erlebt, dass sein unmittelbarer
Vorgesetzter sich durch einen Berg pflichtschuldigst aufgenommener Protokolle
gewühlt hätte. Morse pflegte zu erklären, er selbst könne sich meist nur mit
Mühe an das erinnern, was er am vergangenen Abend gemacht hatte. Deshalb fiele
es ihm schwer, Zeugen Glauben zu schenken, die behaupteten, sie hätten noch
genau im Gedächtnis, was am Mittwoch vor einer Woche stattgefunden habe — es
sei denn, es handelte sich um die neueste Folge von Coronation Street oder den Archers oder ähnliche immer zur gleichen Zeit ablaufende Rituale.
    Nein, so arbeitete Morse
selten.
    Meist ging er eher den
entgegengesetzten Weg.
    In die meisten
Hauptverdächtigen pflegte sich Morse — sofern sie weiblich, relativ jung und
einigermaßen attraktiv waren — zu verlieben, manchmal nur für kurze Zeit, manchmal
aber über mehrere Quartale. Anderen Hauptverdächtigen brachte Morse zuweilen
überraschend viel Verständnis entgegen, besonders wenn er die Vermutung hegte,
dass es kaum gut für ihre Lebensqualität gewesen sein konnte, sich an eine
potenzielle Hure zu binden, die ihren miesen Charakter vorübergehend
erfolgreich getarnt hatte.
    Lewis warf einen raschen Blick
in den Mirror, trank seinen Kaffee aus und sah auf die Uhr. Fünf vor
halb neun. Es wurde Zeit.
    Als er die Kantine verließ,
lief er dem fülligen Sergeant Dixon — «Dixon, den Donut-Vertilger», wie Homer
ihn genannt haben würde — in die Arme.
    «Haben Sie die Sache über die
Sache in Lower Swinstead gesehen?» Dixons Wortschatz zeichnete sich nicht durch
große Vielfalt aus.
    Lewis nickte, und Dixon fuhr
fort:
    «Die hab ich eine Weile mit ihm
zusammen gemacht. Armer alter Strange. Er hat gedacht, er weiß, wer’s war, aber
er hat’s nicht beweisen können. Armer alter Strange. Wie gesagt, ich war ‘ne
Weile mit ihm an der Sache mit dran.»
    Lewis nickte zum zweiten Mal,
und während er die Treppe hochging, überlegte er, wie dieser Montagvormittag
verlaufen würde. Er kannte seinen Chef und wusste, dass Morse keinen Sinn für
Urlaub und normalerweise wenig für die Gesellschaft seiner Mitmenschen übrig
hatte, Ertüchtigung in jeder Form mied wie der Teufel das Weihwasser,
regelmäßige Alkoholgaben hingegen sehr zu schätzen wusste. Und deshalb, sagte
sich Lewis, würde er Morse wohl ziemlich

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