Und kurz ist unser Leben
darauf die mit
scharlachrotem Filzschreiber gemalte Anschrift:
STRANGE (SUPER)
POLIZEI
KIDLINGTON
OXFORD
Die Buchstaben ließen weder auf
besondere Bildung noch besondere Unbildung des Briefschreibers schließen, der
Hinweis in der oberen linken Ecke des Umschlags: «Persöhnlich und vertraulich»
allerdings legte wohl eher den Gedanken an Letzteres nahe. Unverkennbar aber
war es ein Umschlag, der einem sofort ins Auge sprang — etwa so, als hätte ein
Teilnehmer an einem Preisausschreiben seine Lösungskarte mit bunten Bildchen
verziert oder ein Liebhaber mit einer überdimensionalen Valentinskarte Eindruck
machen wollen.
Was würde wohl ihr Chef dazu
sagen?
Barbara war jetzt seit fast
sechs Jahren im Präsidium tätig. Die Arbeit machte ihr Freude, besonders seit
sie vor drei Jahren Sekretärin von Chief Superintendent Strange geworden war.
Dass er gegen Ende des Sommers in den Ruhestand gehen würde, bedauerte sie
sehr. Er war ein Mensch voller Widersprüche, ein Schwergewicht im wahrsten
Sinne des Wortes, der manchmal eine überraschend leichte Hand hatte, dienstlich
nüchtern, ja raubeinig und nicht ganz mit dem IQ eines Aristoteles oder Isaac
Newton ausgestattet war, für persönliche Probleme seiner Mitarbeiter aber, wie
Barbara aus eigener Erfahrung wusste, erstaunlich viel Verständnis aufbrachte.
Zugegeben, er war ein dicker, ungeschlachter Teddybärtyp, einer, der zu Hause
ein bisschen (oder mehr als ein bisschen?) unter dem Pantoffel gestanden hatte
und von seinen Kollegen geachtet, selten aber geliebt wurde. Doch war er auch
ein Mann, der ihr als Frau nie zu nahe getreten war. Da war nur diese eine Bemerkung
gewesen, auf dem Höhepunkt der Hitzewelle von 1995, als sie das knappste Outfit
angehabt hatte, das bei der Polizei gerade noch geduldet wurde, und in dem
Blick ihres Chefs etwas gesehen hatte, was sie (fast hoffnungsvoll?) als
Anzeichen einer schüchternen erotischen Wunschvorstellung auslegte.
«Sie sehen sehr begehrenswert
aus, mein Kind.»
Mehr hatte er nicht gesagt.
War es das, was man allgemein
unter «sexueller Belästigung» verstand?
Natürlich hatte sie niemandem
davon erzählt, aber der Begriff war in diesem langen, heißen Sommer häufig in
den Schlagzeilen aufgetaucht, und sie hatte Kolleginnen in der Kantine darüber
reden hören.
«Ich hätt nix gegen so’n
bisschen sexuelle Belustigung», gestand Sharon, Neuzugang im Schreibzimmer und
von allen die Jüngste.
Woraufhin einer der
dienstälteren Kriminalbeamten, der am anderen Ende des Tisches gesessen hatte,
aufgestanden war, seine Kaffeetasse geleert hatte, zu Sharon herübergekommen
war und ihr behutsam eine Hand auf die sonnengebräunte Schulter gelegt hatte.
«Sexuelle Belästigung ist ein
Begriff, mit dem man nicht Schindluder treiben sollte. Das ist dann nämlich
nicht mehr lustig.»
Er hatte leise, aber ziemlich
schneidend gesprochen, und Sharon war sichtlich gekränkt gewesen.
«Eingebildeter Fatzke! Was
glaubt er denn, wer er ist?», fragte sie, als er weg war.
Barbara hatte sie aufgeklärt.
Persönlich kannte sie ihn
nicht, obgleich seine blauen Augen ihr zulächelten — manchmal ein bisschen
melancholisch, immer aber anteilnehmend —, wenn sie sich auf dem Gang
begegneten, sodass sie manchmal den Eindruck hatte, er wüsste, was sie dachte.
Gott behüte!
An diesem Morgen aber war sie
mit ihren Gedanken nicht bei Morse, sondern bei Strange, dessen Büro sie wie
üblich nach zweimaligem Klopfen betrat. Wenn er so hinter dem Schreibtisch saß
— mit schiefem Schlips, leichtem Schuppengeriesel auf dem Jackett, Haaren, die
ihm aus Ohren und Nase wuchsen, in einem nicht ganz weißen und nicht ganz
glattgebügelten Hemd —, regte sich in ihr manchmal, obgleich sie nicht halb so
alt war wie er, der Wunsch, ihn zu bemuttern.
Dass er bei anderen Frauen nie
derlei komplizierte Empfindungen geweckt hatte, davon war sie überzeugt.
Das heißt — so gut wie
überzeugt...
Kapitel
10
Er
war ein Selfmademan, der seinen Mangel an Erfolg niemandem schuldete.
(Joseph
Heller, Catch-22)
«Wohl wieder so ein Spinner»,
brummte Strange, während er den Brieföffner unter die hintere Umschlagklappe
schob und das eine dünne Blatt herausholte und auseinander faltete. Das
finstere Stirnrunzeln wich rasch einem zufriedenen Lächeln.
«Sehen Sie sich das an, Babs»,
sagte er stolz und machte Anstalten, ihr das Blatt über den Schreibtisch zu
reichen. «Sieht so aus, als könnte es das
Weitere Kostenlose Bücher