Und kurz ist unser Leben
versichert, dass die Aktenboxen. die sich im Archiv des
Polizeipräsidiums Thames Valley stapeln, mitnichten ungestört Staub ansetzen.
Immerhin ist es ja erst ein Jahr her, dass Mrs. Harrisons Leiche im
Schlafzimmer ihres denkmalgeschützten, von vier Morgen Waldland umgebenen
georgianischen Hauses in dem Cotswolds-Dörfchen Lower Swinstead gefunden wurde.
Das Haus «The Windhovers» wurde ziemlich bald nach dem Mord für 350 000 Pfund
verkauft, und die Familie hat das stille baumbestandene Dorf längst verlassen —
natürlich bis auf Yvonne, die auf dem gepflegten kleinen Friedhof von St. Mary
begraben ist. Dort ist ein bescheidenes hölzernes Mal in Form eines christlichen
Kreuzes der einzige Hinweis auf die Leiche, die darunter ruht.
Vielleicht
wird der Ermordeten später, wenn der Boden sich hinreichend gesetzt hat, ein
würdigeres Grabmal zuteil. Derzeit allerdings sind hier keinerlei Anzeichen
liebevollen Gedenkens zu sehen, keine Blume schmückt dieses fast verwahrloste
Fleckchen Erde. Die examinierte Krankenschwester Yvonne Harrison arbeitete,
nachdem die beiden Kinder aus dem Haus waren, wieder in ihrem alten Beruf in
Oxford. An jenem Abend, an dem sie den Tod finden sollte, war sie in ein leeres
Haus zurückgekehrt, da sich ihr Mann Frank — wie fast immer an den Wochentagen
— in seiner Londoner Wohnung aufhielt. In «The Windhovers» war vor ein paar
Jahren eingebrochen worden, und die Räuber hatten Fernseher, Videoanlage,
Radios, einen Computer und andere elektrische Geräte mitgehen lassen. Die
Harrisons hatten daraufhin eine komplizierte Alarmanlage mit einer
Notrufeinrichtung im Elternschlafzimmer und neben der Haustür einbauen lassen
und sich in der örtlichen Nachbarschaftswache engagiert. Außerdem kauften sie
einen Rottweilerwelpen namens Rodney, der aber, wie sich im Lauf der Zeit
herausstellte, mehr an Hundekuchen als an ungebetenen Besuchern interessiert
und leider wenige Monate vor dem Mord überfahren worden war.
Aufgrund
der zerbrochenen Scheibe an der Rückseite des Hauses gab man zunächst der
Einbruchstheorie den Vorzug, obwohl auf den ersten Blick nichts von dem gut
sichtbar in den Räumen verteilten Silber und dem wenig einfallsreich
versteckten Schmuck fehlte. Nicht zu übersehen aber war Yvonne Harrison, die
auf dem Bett im Elternschlafzimmer lag: nackt, mit Handschellen gefesselt und
geknebelt. Und tot.
Was
sofort die Phantasie der Öffentlichkeit auf Touren brachte, war die Tatsache,
dass kein anderer als der Ehemann die Tote gefunden hatte.
Eine
etwas verschleppte Obduktion erbrachte, dass Yvonne Harrison vermutlich mit
einem «stahlrohrähnlichen Gegenstand» ermordet worden war, und zwar zwei bis
drei Stunden vor dem Fund der Leiche um 23 Uhr 20 und mit Sicherheit nicht nach
21 Uhr 30. Unabhängige Aussagen bestätigten die Feststellungen des Pathologen.
John Barron, ein Maurer aus dem Ort, hatte um neun — Punkt neun, wie abgemacht!
— Mrs. Harrison angerufen, aber der Anschluss war besetzt gewesen. Gegen halb
zehn hatte er es noch einmal versucht und es lange läuten lassen; diesmal hatte
sich niemand gemeldet. Entweder war der Anrufbeantworter nicht eingeschaltet...
oder die Dame des Hauses war nicht mehr am Leben.
Mit
mehr Erfolg war an diesem Abend ein anderer Anruf getätigt worden. Ein Anruf,
der große Rätsel aufgab. Als kurz nach neun bei Yvonnes Ehemann in der Londoner
Pavilion Road das Telefon läutete und er sich meldete, hörte er eine
Männerstimme, die ihm mitteilte, seine Frau sei in Schwierigkeiten und er müsse
sofort hinfahren. Normalerweise hätte er sich umgehend in seinen BMW gesetzt,
aber da der Wagen in der Werkstatt war, nahm er ein Taxi nach Paddington und
erreichte noch den Zug um 21 Uhr 48 nach Oxford. Er traf dort um 22 Uhr 50 ein
und fuhr — wieder per Taxi — die zehn Meilen nach Lower Swinstead.
So
spät am Abend war nicht viel Verkehr, und Patrick Flynn bremste sein Funktaxi
um 23 Uhr 20 vor «The Windhovers». In sämtlichen Fenstern der Villa brannte
Licht, die Alarmanlage schoss blaue Blitze und jaulte durchdringend. Die
Haustür stand offen — und der Rest ist Geschichte.
Oder war Geschichte, bis vor vierzehn Tagen zwei anonyme Anrufe im
Polizeipräsidium Thames Valley eingingen, die nach Ansicht von Chief
Superintendent Strange der Auftakt zu viel versprechenden neuen Ermittlungen
sein könnten. Es steht zu hoffen, dass die Identität des Mörders von Yvonne
Harrison nun doch noch ans Licht kommt und dass man darauf achten
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