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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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verlassen hatte, zum Tode verurteilt war. Harry hatte
zu viel gewusst. Harry hatte eine Nebenrolle — gut, ein bisschen mehr als eine
Nebenrolle! — in dem Drama gespielt, das an dem Abend des Mordes an Yvonne
Harrison über die Bühne gegangen war, aber Harry hatte beschlossen zu
schweigen. Und der Grund für dieses Schweigen war vermutlich derselbe wie in so
vielen Fällen, in denen geschwiegen wurde: Geld. Irgendjemand hatte dafür
gesorgt, dass Harry seine diskrete Zurückhaltung nicht zu bereuen brauchte.
Harry hatte sich wohl überlegt, dass es sich lohnen könnte, nach seiner
Entlassung die goldene Gans Eier in Größe L statt in Größe M legen zu lassen.
Aber er hatte sich verrechnet. Ein Ereignis war eingetreten — vermutlich hatte
er in den letzten Wochen seiner Haft eine entsprechende Mitteilung erhalten —,
das über seiner Entlassung eine dunkle Wolke der Angst hatte aufziehen lassen.
Und diese Angst war im Nachhinein, da er steif und kalt zwischen Dreck und Müll
von Sutton Courtenay lag, nur zu verständlich.
    Es war ein nicht unbedingt
unvermeidliches, aber absehbares Ende gewesen, und Morse war wenig geneigt,
sich deswegen Vorwürfe zu machen. Lewis würde hinfahren oder war inzwischen
wohl schon da, würde zusammen mit den Kollegen von der Spurensicherung die
vorgeschriebene Prozedur überwachen, würde versuchen, ein paar vorläufige
Schlüsse zu ziehen, würde Strange Bericht erstatten und mit ebenso viel oder
ebenso wenig Erfolg wie jeder andere Beamte der Thames Valley Police nach dem
Motiv für den Mord an Repp suchen.
    Als das dritte Bier vor ihm
stand, fand er, dass die Welt schon viel freundlicher aussah. Er ertappte sich
sogar dabei, dass er sich anhörte, was um ihn herum diskutiert wurde: Darts,
Billard, Ringwerfen, Pennyschieben... Vielleicht, dachte er bei sich, wäre sein
Leben durch derlei unschuldige Vergnügungen um einiges reicher geworden.
    Vielleicht aber auch nicht.
    Vom Woodstock Arms aus
ging er langsam die wenigen hundert Meter nach Norden bis zur Squitchey Lane,
wo er nach rechts zu seiner Junggesellenwohnung abbog.
    Keine Nachricht auf dem
Anrufbeantworter. Keine durch den Briefschlitz geschobenen Briefe oder Notizen.
Ein freier Nachmittag, für den er sich, als er noch an einen Gott geglaubt
hatte, beim Allmächtigen herzlich bedankt hätte. Neben dem Telefon lag sein
Terminkalender — im dunkelblauen Einband der Oxford University Press —, und er
überflog rasch, was in der kommenden Woche anlag. Nichts Besonderes, abgesehen
von der Diabetes-Untersuchung am Montagmorgen um neun im Radcliffe. Mehr als eine
Stunde konnte sie nicht dauern, aber so kurz davor wurde er nun doch etwas
nervös. Er hatte seinem Arzt — und sich selbst — versprochen, vierzehn Tage
lang über seine Blutzuckerwerte genau Buch zu führen. Das war nicht geschehen,
und jetzt konnte er, um Abhilfe zu schaffen, wenig mehr tun, als in den
verbleibenden sechsunddreißig Stunden fünf-, sechsmal zu messen und die Werte
rückwärts zu extrapolieren, um eine Tabelle zufrieden stellender Werte
vorweisen zu können. Er machte so was schließlich nicht zum ersten Mal.
    No problem, wie man in aller
Welt sagt.
    Er schenkte ein Whiskyglas halb
voll mit Glenfiddich und gab die gleiche Menge Leitungswasser dazu, eine
Änderung seiner Trinkgewohnheiten, die ihn in den Augen vieler Schotten wohl
als frevlerischen Engländer abqualifizierte, während sein Hausarzt die Meinung
vertrat, dass er damit seiner Leber einen Gefallen tat. Und die Leber von Morse
bedurfte (was dieser aus der gleichen Quelle hatte) liebevoller Zuwendung —
ebenso wie sein Herz, seine Nieren, sein Magen, seine Bauchspeicheldrüse, seine
Lunge.
    Lunge...
    Zumindest das Rauchen hatte er
sich abgewöhnt, eine widerliche Angewohnheit, wie er inzwischen selbst begriff,
an der er aber fast genauso viel Freude gehabt hatte wie an anderen Lastern
dieses Lebens. Und hätte ihm jemand zuverlässig vorausgesagt, dass der Tag des
Jüngsten Gerichts in Kürze (am kommenden Montag beispielsweise) zu erwarten sei
— er wäre sofort ins nächstbeste Tabakwarengeschäft gelaufen, um einen
Zigarettenvorrat einzulagern. Am liebsten hätte er das jetzt schon getan; ihm
war, als hörte er bereits den Klang der letzten Posaune.
    Im Wohnzimmer legte er Bruno
Walters alte Aufnahme der Walküre mit Lauritz Melchior und Lotte Lehmann
als Siegmund und Sieglinde auf. Wunderbar! Morse drehte bei der Erkennungsszene
am Ende des ersten Aktes die Lautstärke hoch, so

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