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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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der
Genugtuung erinnern. Er sah, wie sich das Gesicht von Chief Inspector Morse
schnell von schmutzigem Gelb zu krankhafter Blässe verfärbte, wie der große
Mann sich jäh abwandte und sich heftig auf den kürzlich erneuerten Asphalt
erbrach. Edwards kam sich vor wie ein Nachwuchsschauspieler, der zusammen mit
Sir John Gielgud auf der Bühne steht und bei der Probe erlebt, wie der große
Mann bei der Probe den schönsten Text verpatzt, womit er den übrigen
Mitwirkenden unfreiwillig Mut macht, weil sie jetzt alle weniger Angst vor
Patzern zu haben brauchen.
     
     
     

Kapitel
33
     
    Denn
die Guten sind stets die Vergnügten,
    es
sei denn, ein Pech trifft sie ganz,
    und
Vergnügte liehen die Fiedel
    und
Vergnügte lieben den Tanz.
     
    Kaum
dass mich die Leute erspähen,
    da
strömen sie gleich zu mir her,
    rufen
«Hier ist der Fiedler von Dooney»
    und
tanzen gleich Wellen im Meer.
    (W
B.Yeats, Der Geiger von Dooney)
     
    Morse sah, nachdem er geraume
Zeit auf der Toilette zugebracht hatte, wieder mehr oder weniger normal aus,
als er jetzt die Nase tief in den Guinness-Schaum steckte.
    «Genau das Richtige, wenn man
einen schlechten Geschmack im Mund hat.»
    Lewis ließ den Blick durch den
Gastraum gehen, damit sein Chef Zeit hatte, seine Würde zurückzugewinnen. Die
Einrichtung — Tresen, Wandbänke, Boden, Tisch — war ganz aus Holz, gutem,
solidem, wenn auch ein bisschen mitgenommenem Holz, von dem jede Spur von Farbe
längst abgewetzt war. Wände und Decke, ursprünglich in Gelb und Orange
gehalten, hatte das Nikotin zahlloser Zigaretten verfärbt. An den Wandfriesen
liefen in schönen schwarzen gälischen Buchstaben die Aussprüche großer Iren
entlang. Besonders einer war Lewis ins Auge gefallen:
     
    Was nützt es, wenn du es
Geldleihen nennst, wo ich doch weiß, dass ich es nie wieder sehen werde?
     
    Die Frage war gut, aber nicht
so dringend wie die, mit der er jetzt Morse konfrontierte.
    «Waren Sie überrascht?»
    «Worüber?»
    «Dass im Kofferraum Harry Repps
Leiche lag?»
    Morse nickte, während er sich
den weißen Schaumbart abwischte. «Heute früh hab ich gedacht, ich wüsste mehr
oder weniger, womit wir es zu tun haben. Jetzt aber, nachdem mir klar geworden
ist, dass ich keine Ahnung habe...» Er deutete auf die Wand zu ihrer Rechten.
«Ein bisschen wie Oscar Wilde.»
    Lewis las:
     
    Ich habe den ganzen Vormittag
an den Druckfahnen meiner Gedichte gearbeitet und ein Komma rausgenommen.
Nachmittags habe ich es wieder reingetan.
     
    Für Lewis war dies eine
bedrückende Erkenntnis, und er nippte ziemlich freudlos an seinem Orangensaft.
Seine Laune wurde nicht besser, als er sah, wie Chief Superintendent Strange
schwerfällig zu ihrem Tisch gewatschelt kam, Platz nahm und sich mit einem
riesigen Taschentuch die feuchte Stirn wischte.
    «In ein schönes Schlamassel
haben Sie uns da gebracht, Morse.»
    Dann wandte er sich an Lewis.
«Ihre Runde?»
    «Ja, also...»
    «Bestens. Ich nehme dasselbe
wie der Chief Inspector.»
    «Einen Pint, Sir?»
    «Dasselbe wie der Chief
Inspector. War das deutlich genug, Sergeant?»
    Lewis begab sich erneut zum
Tresen, lauschte der ziemlich verhaltenen Hintergrundmusik, die mit ihren
Flöten und Fiedeln so irisch war wie das ganze Pub, und überlegte, wie lange es
wohl dauern würde, bis Morse sich das «Gedudel» verbat.
    Strange nahm einen tiefen Zug,
dann wandte er sich an Morse. «Es ist Ihnen hoffentlich klar, dass Sie und
Lewis mich jetzt schon zum zweiten Mal vom Golfplatz holen.»
    «Dafür müssten Sie uns
eigentlich dankbar sein, besonders wenn Sie am Verlieren waren.»
    Strange lächelte mit leichter
Wehmut. «Allzu oft gewinne ich heutzutage nicht mehr, das stimmt schon.»
    «Wir werden eben alle nicht
jünger.»
    «Es gibt nur zweierlei, was
unweigerlich auf uns zukommt, Morse: der Tod und die Steuer. Irgendein
amerikanischer Präsident hat das mal gesagt.»
    Lewis sprang in die Bresche.
«Benjamin Franklin.» Seine beiden Vorgesetzten sahen ihn verblüfft an, ohne
sich jedoch nach der Quelle dieses erstaunlichen Wissens zu erkundigen.
    «Was halten Sie von der
Sache?», fragte Strange leise.
    Morse schüttelte den Kopf.
«Während Ihrer lausigen Golfpartie habe ich wunderbar geschlafen.»
    «Das ist keine Antwort.»
    «Die Kollegin Hobson dürfte
bald hier sein.»
    «Sie ist schon da.»
    «Wir können nichts machen, ehe
wir die Berichte haben, das Ergebnis der Obduktionen...»
    «Die Spurensicherung hat ein
gutes Team geschickt.»
    Morse nickte.

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