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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Vorlagen, ganz zu schweigen von den aufmerksamen
Mitbürgern, die dem Aufruf in der Presse gefolgt waren und Beobachtungen
gemeldet hatten. Diese systematische Routinearbeit hatte bisher noch nicht viel
gebracht, war aber trotzdem unverzichtbar. Bei kriminalpolizeilichen
Ermittlungen ging es stets um Motive und Beziehungen, um Uhrzeiten und Daten
und Alibis. Zweck der Übung war es, aus all diesen Teilen ein Muster zusammenzusetzen.
Nur waren es eben sehr viele Teile. Blaue für Himmel und Meer, grüne und braune
für Bäume und Land, und hier und da ein, zwei eigenartig kolorierte Teile, die
nirgendwo so recht hinpassten. Und da war Morse gefragt. Man hatte fast den
Eindruck, als spielte der Chief Inspector mit gezinkten Karten, als habe er
sich heimlich schon das fertige Bild angesehen, ehe er die einzelnen Teile in
die Hand nahm.
    Häufig hatte Morse in dieser
Woche unbeweglich und ohne sich vom Fleck zu rühren — bis auf eine gute Stunde
über die Mittagszeit — im Präsidium gesessen und hin und wieder fast beiläufig
ein, zwei Seiten eines Berichtes, einer Aussage, eines Briefes aus den dicken
Aktenboxen auf seinem Schreibtisch geholt, auf deren Rücken mit Filzstift in
großen Buchstaben der Name YVONNE HARRISON geschrieben stand. Offenbar hatte
sich der Chief Inspector zu der Ansicht von Strange bekehren lassen, dass eine
kausale Verbindung zwischen den Fällen mehr als wahrscheinlich war.
    Was Lewis nicht weiter
wunderte.
    Wundern musste er sich
allerdings über die Zahl der grünen Aktenboxen. Als er das Material
durchgesehen hatte, waren es — das hätte er schwören können — nur drei gewesen.
     
     
     
     

Kapitel
39
     
    Frage:
Wie viele Obduktionen haben Sie an Toten vorgenommen, Herr Doktor?
    Antwort:
Ich pflege meine Obduktionen stets an Toten vorzunehmen.
    (Aus Massachusetts Lawyer’s Journal)
     
    Morse, der sich am Sonntag zu
einer für ihn beispiellos frühen Stunde, nämlich um halb zehn, zu Bett gelegt
hatte, wachte mit rasenden Kopfschmerzen auf. In der festen Annahme, dass es
schon dämmerte, hatte er auf die Armbanduhr gesehen und konstatieren müssen,
dass es erst halb zwölf war. Danach war er mit schöner Regelmäßigkeit und trotz
ebenso regelmäßiger Gaben von Alka-Seltzer und Paracetamol alle neunzig Minuten
aufgewacht. Dabei drehten sich seine Gedanken selbst in den Schlafphasen auf
einem Karussell unruhiger Träume, seine Blutzuckerwerte kletterten in
schwindelnde Höhen, seine Füße waren abwechselnd heiß und eiskalt, und das
Sodbrennen brachte ihn fast um.
    Ovid, den Morse inzwischen fast
als seinen lateinischen Lieblingsdichter betrachtete, hatte in einer seiner
Oden die Pferde der Nacht ersucht, langsamer zu galoppieren, wann immer eine
willfährige Geliebte neben ihm lag. Morse hatte keine Bettgefährtin neben sich,
hätte aber wohl auch dann die bewussten Gäule darum gebeten, so zügig wie
möglich auf ihr Ziel loszugehen.
    Schließlich erhob er sich aus
dem zerwühlten Bett und war, als die rosenfingrige Eos sich über der
Sozialsiedlung Cuttleslowe erhob, schon beim Rasieren.
    Um sechs maß er noch einmal
seinen Blutzuckerwert, der von 24,4 um ein Uhr nachts jetzt auf dramatische 2,8
abgesunken war, was bedeutete, dass der Körper dringend nach einem ordentlichen
Frühstück verlangte, einem weich gekochten Ei mit Toast beispielsweise. Da
Morse weder Eier noch Brot im Haus hatte, würde er notgedrungen auf
Frühstücksflocken ausweichen müssen. Nur hatte er auch keine Milch, sodass ihm
wohl nichts weiter übrig blieb, als seine eiserne Ration anzugreifen, einen
dicken Marsriegel, der immer irgendwo in der Wohnung herumlag. Dann aber sah er
— danke, Sankt Antonius! —, dass der Milchmann schon da gewesen war, sodass er
sich eine große Schale Cornflakes mit einem halben Liter herrlich kalter Milch
und mehreren gehäuften Esslöffeln Zucker zu Gemüte führen konnte. Jetzt hätte
er Bäume ausreißen können.
    Manchmal meinte das Leben es
doch gut mit ihm!
    Um Viertel vor acht spielte er
— nicht sehr ernsthaft — mit dem Gedanken, ins Büro zu laufen. Von seiner
Wohnung in North Oxford zur A40-Ringstraße und von da den sanften Hang hinunter
nach Kidlington mochten es fünfunddreißig bis vierzig Minuten sein. Gestoppt
hatte er die Zeit noch nie, denn er war die Strecke noch nie zu Fuß gegangen. Und
auch heute verzichtete er auf den Fußmarsch. Stattdessen setzte er sich nach
seiner ersten Insulinspritze in den Jaguar, der ihn wesentlich schneller

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