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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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eingestellt, hätte er eine Enttäuschung erlebt, denn bis zum Mittag
glänzte Morse mit Abwesenheit. Allerdings war er in diesen Vormittagsstunden
nicht müßig; ein Besucher seiner Junggesellenwohnung hätte ihn dort an seinem
Schreibtisch sitzen sehen, wo er die meiste Zeit damit beschäftigt war, fleißig
und — wie wir wissen — sehr sauber und leserlich weißes Papier zu beschreiben.
Seine alte Schreibmaschine (mit schadhaftem e und t) stand neben ihm, aber er
hatte es auf diesem Instrument nie zur Meisterschaft gebracht und schrieb jetzt
in Langschrift mit einem mittelblauen Kugelschreiber.
     
    Zur vorrangigen Durchsicht
     
    In
den letzten Tagen hat sich einiges zugetragen, was mich veranlasst, meine
Gedanken zum derzeitigen Spielstand schriftlich festzuhalten.
    1.
Neuerdings wache ich nach albtraumhaften Nächten täglich mit dem Gefühl auf,
dass mir eine Katastrophe ins Haus steht. Ob der Tod unter diesen Begriff
fällt, weiß ich nicht, allerdings kann ich Sokrates insofern nicht zustimmen,
dass der Tod ein Segen sei, den man sich inbrünstig herbeiwünschen solle,
selbst wenn er (wie ich hoffe und glaube) ein langer, traumloser Schlaf ist.
Denn allein die Tatsache, dass wir leben, ist doch wohl das Beste, was den
meisten von uns passieren kann.
    2.
Der letzte uns beiden übertragene Mordfall ist — bis auf ein, zwei noch zu
klärende Punkte — zufrieden stellend gelöst. Repp und Flynn sind von Barron
umgebracht worden, und der Mörder selbst ist inzwischen tot, was weitere
Einsichten in den ursprünglichen Mordfall Harrison aus ihrem Blickwinkel
ausschließt.
    3.
Es ist meine feste Überzeugung, dass Frank Harrison der Zahlmeister war. Es ist
höchste Zeit, dass wir ihn eingehend im Präsidium befragen, entweder gezielt zu
dem Mord an seiner Frau oder zumindest zu einer möglichen schuldhaften
Verstrickung in die Tat.
    4.
Es ist weiterhin meine feste Überzeugung, dass Yvonne von einem Mitglied ihrer Familie
ermordet wurde. Alles andere ergibt aus meiner Sicht keinen Sinn. Einen Vorsatz
können wir ausschließen — vorsätzlicher Mord ist selten —, vielmehr dürfte es
sich um eine spontane, gewaltsame, vielleicht unbeabsichtigte Tat gehandelt
haben. Sie wurde begangen von derjenigen Person, die Yvonne Harrison in einer
für sie völlig unerwarteten, abartigen und perversen Situation antraf.
    Auf
den ersten Blick ist der Ehemann der Außenseiter, und Sie werden deshalb
verstehen, Lewis, dass er aus meiner Sicht der Favorit ist. Was mir allerdings
Rätsel aufgibt, ist das Warum. Er war und ist kein Dummkopf und muss über die
Neigungen seiner Frau zu Fesselung und möglicherweise Masochismus im Bilde
gewesen sein. Flammende Eifersucht als Motiv kann ich mir deshalb schlecht
vorstellen, zumal ich den starken Verdacht hege, dass er selbst häufig die
angeblichen Freuden außerehelichen Geschlechtsverkehrs genossen hat.
    Hier
muss ich ein Geständnis machen.
    Ein
paar Mal habe ich mich dabei ertappt, dass ich in die Gesichter der in diesen
Fall verwickelten Personen geschaut und mir gesagt habe: Die hast du doch
irgendwo schon mal gesehen...Vielleicht, weil es in einem so kleinen Ort viel
Inzucht gibt. Kein Wunder, dass die Einwohner derart zugeknöpft reagiert haben.
Nehmen wir Allen Thomas, den fanatischen Spielautomatenfütterer. Jawohl,
«Allen» ist die korrekte Schreibweise, Lewis, die ich aus den Unterlagen der
Dorfschule habe: Allen Alfred Thomas. Eine Schreibweise, die heutzutage
ungewöhnlich ist. Und «Alfred» gehört ja eher in die erste Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Ich konnte auch in Erfahrung bringen (nein, halt: Dixon hat es in
Erfahrung gebracht), dass der Vorname von Elizabeth Jane Thomas’ Vater Harold
Alfred war und jemand im Dorf einen Vater hatte, der mit Vornamen Joseph Allen
hieß. Dieser Jemand war Frank Harrison. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel darauf,
dass er der Vater des Jungen ist und Elizabeth ihrem unehelichen Sohn die
beiden Vornamen gab, um ihm damit — zumindest in ihren Augen — einen gewissen
Anschein von Ehelichkeit zu verleihen. (Ob wohl sein Vater ihm einen
Spielautomatenzuschuss gibt?)
    Jetzt
zu den Harrison-Kindern.
    Sohn
wie Tochter hätten ihre Mutter ermorden können. Aber was war das Motiv? Ich
kann mir einfach nicht vorstellen, dass Sarah plötzlich zur Mörderin wird, weil
sie ihre Mutter mit einem ihrer vielen Liebhaber im Bett ertappt. Was kümmert
es sie, wenn sich ihre Mutter gelegentlich beißen und fesseln lässt? Sie mag
schockiert und

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