Und morgen am Meer
spürte eine tiefe Sehnsucht in mir, sie zu berühren und dann …
Ich konnte nicht anders, ich musste sie küssen.
Zuerst wirkte sie ein wenig überrascht, doch dann beugte sie sich etwas vor, sodass sich unsere Lippen vollkommen berührten. Mir wurde ein wenig schwindelig, denn so hatte ich noch nie einen Kuss gespürt. Ihre Lippen schmeckten ein wenig nach Tränen aber auch süß, so süß, dass ich sie nie wieder freigeben wollte. Die Welt schien um uns herum zu verschwimmen, auf einmal gab es keine Mauer mehr – beinahe war es wie in dem Lied von Bowie. Meinetwegen hätten jetzt über uns Gewehrkugeln fliegen können, es hätte mir nichts ausgemacht, denn ich hatte sie nun dicht bei mir, Milena, die meinen Kuss mittlerweile schon verzweifelt erwiderte und sich dann schluchzend zurückzog.
Warum weinte sie.
»Ich … war ich …« Zweifel überkamen mich, war der Kuss nicht gut? Hatte sie überhaupt nicht geküsst werden wollen?
Milena legte mir ganz sanft die Finger auf die Lippen, senkte den Blick und kämpfte gegen die Tränen an.
»Das war schön«, flüsterte sie, als sie mich wieder ansah. »So schön.«
»Milena, ich …« Wieder ihre Hände.
»Du musst jetzt gehen«, flüsterte sie heiser.
»Und wenn ich nicht will?«
»Du musst!«
Wieder trafen sich unsere Lippen, diesmal küsste sie mich. Lange. Dann zog Milena sich zurück, ließ mich los und erhob sich von der Parkbank.
»Bitte geh«, hauchte sie. »Und vergiss mich nicht.«
»Das werde ich nicht«, antwortete ich wie betäubt. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass ich wiederkommen würde, dass ich versuchen würde, sie wiederzusehen, aber ich wagte es nicht.
»Pass auf dich auf, ja?«
»Und du auf dich.«
Milena warf mir einen traurigen Blick zu, dann drehte sie sich um und lief mit hastigen Schritten los.
Ich blieb wie versteinert auf der Bank sitzen. Eigentlich hätte ich ihr nachlaufen sollen, doch meine Füße trugen mich in diesem Augenblick nicht. Ich sah, wie das Karamellmädchen um die nächste Ecke bog und dann auf der Wichertstraße verschwand. Für immer.
Milena
Ich schlang die Arme um meinen Körper, als wollte ich meine Seele davon abhalten, aus meinem Körper zu fallen. Noch immer fühlte ich Claudius’ Lippen. Es war ein wunderbares Gefühl, und gleichzeitig tat es so unendlich weh.
Eigentlich hätte ich die ganze Nacht mit ihm auf der Parkbank sitzen können, ja, ich wäre zu gern mit ihm gegangen. Aber es war unmöglich.
Nur schwerlich widerstand ich dem Drang, mich umzusehen, herauszufinden, ob er mir nachblickte, ob er Anstalten machte, mir zu folgen. Aber das hätte mich womöglich zerrissen. Womöglich hätte ich dann nicht mehr die Kraft gehabt, nach Hause zurückzukehren. Aber ich musste.
Ich hatte mich heimlich aus der Wohnung gestohlen, vorbei an dem Gespräch, das Mirko und Papa über mich führten. Mirko verteidigte mich glücklicherweise mit so lauter Stimme, dass sie nicht mitbekamen, wie ich durch die Tür schlüpfte. Sonst wäre Papa mir schon längst nachgekommen.
Mit dem Gefühl, dass meine Knochen aus Blei wären, schleppte ich mich die Treppen hinauf. Ringsherum liefen die Fernseher, im ersten Stock stritt sich das Ehepaar Müller. Ganz oben übte Herr Nothnagel auf der Gitarre irgendein Lied, das ich nicht erkennen konnte – und wollte.
Je näher ich unserer Wohnung kam, desto elender fühlte ich mich.
Ich schloss die Tür auf und trat ein. Im Wohnzimmer lief der Fernseher nicht mehr. Auch aus Mirkos Zimmer war kein Laut zu hören.
Waren sie schlafen gegangen?
Ich erschrak heftig, als mein Vater plötzlich aus dem Wohnzimmer kam.
»Wo warst du?«, brummte er finster.
»Draußen«, erwiderte ich trotzig.
Die Augen meines Vaters, dem man anmerken konnte, dass er getrunken hatte, wurden schmal.
»Hast du wieder einen Brief abgeschickt? An ihn?«
»Du spinnst doch!«, entgegnete ich und wollte in mein Zimmer laufen, doch diesmal hielt er mich fest.
»Du wirst ihm nicht mehr schreiben, hörst du? Nie mehr!«
Seine Alkoholfahne wehte mir entgegen. Ja, er hatte getrunken. Und wie. Vielleicht sogar mit Mirko zusammen.
Auf einmal griff die Angst wieder nach mir. Es kam nicht häufig vor, dass Papa sich so sehr betrank, dass er sich nicht mehr beherrschen konnte. Heute schien allerdings einer dieser seltenen Momente zu sein.
»Aber was ist denn so schlimm daran?« Bevor ich es verhindern konnte, waren die Worte draußen. Versöhnlicher fügte ich hinzu: »Er ist auch nur ein Mensch
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