Und morgen am Meer
Doch obwohl ihr Gesicht tränenverbrannt war, war es immer noch schön. Ich küsste sie auf die Wange, strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht und legte dann meine Wange an ihre. Die Frage, was nun werden solle, legte sich in meiner Kehle quer, sodass ich sie nicht aussprechen konnte. Die meisten Möglichkeiten, die wir hatten, waren erschreckend genug, um sie nicht laut zu sagen.
»Wir dürfen uns nicht mehr sehen«, sprach Milena genau die Worte aus, vor denen ich mich am meisten fürchtete.
»Was sagst du da?«, fragte ich, denn das konnte sie unmöglich ernst gemeint haben.
»Es ist zu gefährlich. Wenn sie dich hier erwischen, werden sie dich ins Gefängnis stecken.«
»Weil ich ganz legal nach Ostberlin eingereist bin?« Ich konnte nichts anderes tun, als ungehalten zu schnaufen.
»Weil du Kontakt zu einer Ostberlinerin aufgenommen hast«, antwortete ich, »weil du mir die Kassette hinterhergetragen hast, weil du immer wieder herkommst, weil du mir schreibst und weil …« Milena stockte.
»Weil ich mich in dich verknallt habe«, vollendete ich ihren Satz und sah eine Träne in ihrem Augenwinkel glitzern. Es dauerte nicht lange, bis sie über ihre Wange floss.
»Das vielleicht auch«, entgegnete sie leise. »Und weil ich wohl schon seit meiner Kindheit von der Stasi überwacht werde, weil es meiner Mutter gelungen ist, aus diesem ganzen Irrsinn zu flüchten.«
Eine ganze Weile saßen wir schweigend nebeneinander. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich sagen sollte. Jetzt war
mir
zum Heulen zumute. Doch es reichte schon, dass Milena die Tränen kamen. Ich musste ihr Halt bieten, irgendwie – auch wenn sie mir eben gesagt hatte, dass ich sie nicht wiedersehen solle.
»Gibt es nicht doch irgendeine Möglichkeit?«, fragte ich, während ich sie nun wieder ansah. Ihre Regenwaldaugen wirkten so unendlich traurig, dass es mir fast das Herz zerriss. Sie zog die Nase hoch, zuckte mit den Schultern, dann antwortete sie: »Ich weiß es nicht. Sie werden mich ab sofort beobachten. Vielleicht tun sie das sogar schon.«
»Und wenn wir uns an einem anderen Ort treffen? Die von der Stasi können doch nicht überall sein!«
Verzweiflung stieg in mir hoch. Am liebsten hätte ich einen Bagger gekapert und wäre damit zur Mauer gefahren. Aber das war alles nur Fantasie. In Wirklichkeit würde ich mit dem Gefährt nicht mal über den Todesstreifen kommen. Und ändern würde es an unserer Situation auch nichts.
»Später vielleicht«, sagte sie, so leise, dass ich es kaum hören konnte. »Die Stasi ist überall, niemand weiß, wer für sie arbeitet. Es sind nicht nur die Leute, die offiziell dort angestellt sind, es gibt überall in der Stadt Spitzel. Man kann nie wissen, wer für sie spioniert.«
»Aber das ist ja furchtbar«, sagte ich, und meinte dabei das eine wie das andere. Dass ich Milena nicht wiedersehen sollte und dass hier niemand dem anderen vertrauen konnte.
»Das ist die DDR «, entgegnete sie bitter, atmete tief und zitternd durch und schmiegte sich noch einmal an mich. »Ich will dich nicht gehen lassen. Der Gedanke, dass alles einfacher wäre, wenn auch dem Rest unserer Familie die Flucht gelungen wäre, macht mich fertig. Mirko hat mir erzählt, dass sie über die Ostsee wollten. Er erinnert sich nicht mehr an viel, aber wenn ich dran denke, dass ich auf eurer Seite leben könnte …«
Ich zog sie fester an mich, legte meine Lippen auf ihr Haar. »Möglicherweise hätten wir uns dann nie kennengelernt. Es gibt überall bei uns Jungs.«
»Aber keinen wie dich.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte ich. »Vielleicht gibt es sogar bessere. Welche, die den Mut haben, nicht auf dich zu hören.«
Milena sah mich jetzt fast schon gequält an. »Du musst drüben bleiben! Jedenfalls für eine Weile. Möglicherweise ändert sich etwas. Möglicherweise …«
»Triffst du einen anderen«, setzte ich bitter hinzu.
Milena schüttelte unwillig den Kopf. »Die Mauer ist stark, und die, die sie schützen, kennen keine Gnade. Ich will keine Angst um dich haben.«
»Aber
ich
werde Angst um
dich
haben«, entgegnete ich, beinahe ein bisschen zu heftig. »Ich werde mich jede Minute fragen, was mit dir ist und ob sie dir nicht schon wieder Schwierigkeiten machen. Wie soll ich das aushalten, wenn ich nicht nach dir sehen darf. Wenn ich dir nicht mal schreiben darf!«
Auf einmal waren unsere Gesichter ganz nahe. Milenas Regenwaldaugen bohrten sich in meine. Ich sah ihre leicht aufgeworfenen Lippen,
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