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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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sie noch lebte.
    Während ich nachdachte, beobachtete mich Claudius die ganze Zeit über, als versuchte er, zu sehen, was sich in meinem Kopf abspielte. Schließlich griff er nach meiner Hand. »Wenn du willst, bringe ich dich nach Italien. Wir sehen uns Verona an. Und Florenz. Und Rom. Vielleicht bleiben wir auch eine Weile da. Am Meer. Ich will, dass du wenigstens einmal im Leben richtig frei bist. Und wenn wir genug vom Wasser haben, suchen wir deine Mutter. Vielleicht kannst du ja bei ihr bleiben.«
    Unzählige Gründe, warum das nicht ging, schossen mir durch den Kopf. Was war mit Papa und Mirko? Ich hatte wieder den anonymen Anzugmann vor mir. Hörte seine Drohungen. Aber die Aussicht, frei zu sein, mit Claudius irgendwohin zu gehen, wo uns die Stasi nicht erreichen konnte, war einfach zu schön. Und dann vielleicht Mama zu finden. Endlich von ihr zu erfahren, was damals passiert war … Mirko, dem vorbildlichen Soldaten, würde schon nichts geschehen. Und Papa … Im Moment wollte ich ihn für lange Zeit nicht sehen. Wenn ich flüchtete, war das meine Sache und nicht seine …
    »Und wie wollen wir da hinkommen?«, fragte ich, während sich in meinem Herzen eine Pforte zu öffnen schien.
    »Trampen. Wir lassen uns einfach von irgendwem an die Grenze kutschieren und darüber hinaus. Es gibt sicher jemanden, der uns mitnimmt.«
    »Oder wir nehmen die Maschine meines Bruders«, hörte ich mich sagen. Und gleichzeitig erschrak ich darüber. War das wirklich ich? Ja, das war ich. Und ich spürte, wie sich die Waagschalen der Entscheidung deutlich zu einer Seite neigten.
    Wollte ich hierbleiben, in einem Käfig, der nur zu einer Seite hin offen war – und das auch nicht wirklich?
    Nein! Lieber würde ich versuchen, auf die andere Seite zu kommen. Auch wenn das bedeutete, dass ich mein ganzes bisheriges Leben hier zurücklassen musste.
    »Die Maschine deines Bruders?«, fragte Claudius überrascht – und auch ein wenig unbehaglich. Ich hatte die Geschichte mit seinem Unfall nicht vergessen. Aber Trampen war einfach zu gefährlich. Wenn ich mit irgendeinem Steckbrief gesucht wurde – keine Ahnung, ob die Stasi das so machte –, würden mich die Leute wahrscheinlich wiedererkennen.
    Ich nickte. »Ja, sie steht hier im Keller. Er braucht sie im Moment nicht.« Mirko würde sicher ein Fass aufmachen, wenn er davon erfuhr, aber gleichzeitig würde er es vielleicht auch verstehen.
    »Wir können sonst auch den Weg durch den Geisterbahnhof nehmen.«
    »Nein!«, platzte es aus ihm heraus. »Das wäre zu gefährlich. Wenn sie uns bemerken, schießen sie auf uns.« Vorsichtig legte er die Hände um mein Gesicht, streichelte mit den Daumen meine Schläfen und küsste mich dann, so federleicht, so zärtlich, dass ich glaubte, vom Boden abzuheben.
    »Dann bleibt also nur die Maschine«, wisperte ich, als sich unsere Lippen wieder trennten.
    »Und wo steht sie?«, fragte Claudius.
    »Unten im Keller. Aber vorher sollten wir noch ein bisschen zusammenpacken. Bis zur Grenze brauchen wir ein paar Tage, außerdem müssen wir Haken schlagen wie ein Kaninchen.«
    »Wie ein Kaninchen.« Claudius lächelte. Wie ich dieses Lächeln liebte! »Vielleicht folgen wir ja auch dem weißen Kaninchen. Wie Alice im Wunderland. Die kennst du doch.«
    »Meinst du die Zeichentrickserie?« Die hatte ich als Kind geliebt!
    »Nein, das Buch von Lewis Carroll. Hast du das noch nicht gelesen?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Sicher gehört das auch zu den verbotenen, die man hier nur als Bückware bekommt.«
    »Bückware?«
    »Ja, weil sie unter dem Ladentisch liegt und du dich bücken musst, um sie zu sehen.«
    Wir sahen uns an und prusteten dann beide gleichzeitig los.
    Erregt und auch ein bisschen eingeschüchtert von unserer bevorstehenden Reise packte ich schnell zusammen, was wir in den kommenden Tagen brauchen würden. Verbandszeug, Kopfschmerztabletten, Taschentücher, Monatsbinden, Unterwäsche und meine beiden Lieblingsbücher. Geld war sehr wichtig; ich hatte in meiner kleinen Spardose noch etwa hundert Mark, all das, was ich über neun Jahre hinweg für meine Einser auf dem Zeugnis bekommen hatte. Außerdem packte ich zwei Kassetten ein. Die, die Claudius und mich zusammengebracht hatte, und die, die er mir bespielt hatte.
    Claudius meinte, er habe seinen Walkman mitgenommen. Ein tolles Gerät, das ich aus dem Westfernsehen kannte. Hier hatte ich noch nie so etwas gesehen. Man konnte ganz einfach die Musik mitnehmen, ohne sich schwer an

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