Und morgen am Meer
Verwandten aus dem Westen ausgeben …
»Warte mal«, sagte ich, denn plötzlich fiel mir was ein. Ich riss den kleinen Medizinschrank neben der Tür auf, in dem Papa irgendwelche Kopfschmerztabletten, Bromhexid-Flaschen und andere Mittelchen aufbewahrte. Viele davon waren schon abgelaufen, und ich fragte mich, was er damit noch wollte. Doch endlich fand ich hinter einer Packung Magentabletten die Salbentube. Sie war schon ziemlich zusammengedrückt, aber noch zwei Monate haltbar.
»Was ist das?«, fragte Claudius, während ich den Verschluss aufschraubte.
»Heparin-Salbe. Mein Vater benutzt sie manchmal. Wenn alles gut geht, löst sie den Blutfleck innerhalb weniger Tage auf.«
»Und wenn es nicht gut geht?«
»Dann geht der Fleck entweder von allein weg oder ich bringe dich zu einem Arzt. Und jetzt halt still.«
Vorsichtig strich ich die Salbe mit den Fingern auf den Fleck. Ich spürte, wie sich die Haut unter meiner Berührung und der kalten Salbe zusammenzog. Claudius versuchte, tapfer stehen zu bleiben, zuckte dann aber doch zurück.
»Hab ich dir wehgetan?«, fragte ich, worauf er den Kopf schüttelte. »Nein, aber die Salbe ist kalt.«
Als ich den Fleck eingerieben hatte, zog ich Claudius zurück in die Küche, wo er sich wieder anzog.
Ich wusch mir die Hände, stellte ein paar Kekse auf den Küchentisch, füllte einen Topf mit Wasser und griff nach dem Tauchsieder, um Tee zu machen.
»Warum bist du eigentlich hergekommen?«, fragte ich, während ich beobachtete, wie sich die ersten Wasserblasen auf dem gebogenen Metall bildeten. Tauchsieder durfte man nicht aus den Augen lassen, so hatte es mir mein Großvater eingeschärft.
»Weil ich dich sehen wollte. Weil ich mich nicht damit abfinden wollte, dass ich dich nie wiedersehen sollte. Und weil ich glaube, nein, weil ich inzwischen weiß, dass ich mich in dich verliebt habe. So was Bescheuertes wie aus einem Zug zu springen macht man wohl nur dann, wenn man sich sicher ist, oder?«
Jetzt wirbelte ich doch herum. Und fragte mich gleichzeitig, was mich daran so überraschte. Immerhin hatten wir uns geküsst! Und ich wusste ja auch, wie es in
mir
aussah. Aber hätte ich den Mut gehabt, in den Tunnel zu klettern und zu versuchen, an oder in die fahrende Bahn zu kommen?
»Aber wenn sie dich nun erwischt hätten. Da unten in den Tunneln haben die Grenzsoldaten Schießbefehl.«
»Ich bin doch hier, oder?« Claudius lächelte breit. »Da Lorenz die Platte offen gelassen hatte und das niemandem aufgefallen war, konnte ich recht gut durchklettern. Müsste ich zwar nicht noch mal und aus reinem Spaß machen, aber in dem Augenblick ging es schon.«
»Du bist verrückt, weißt du das? Einfach verrückt«, entgegnete ich und griff dann wieder nach seinem Haar. Das Blut trocknete allmählich, jetzt war es mir auch egal. Er war hier. Auch wenn alles andere großer Mist war, er war hier.
»Und nun?«, fragte ich, drehte mich dann aber ruckartig um, als ich das Wasser über dem Tauchsieder blubbern hörte.
»Ich wollte dich fragen, ob du noch immer dorthin willst, wo Romeo und Julia gelebt haben. Und ans Meer.«
Beinahe wäre mir der Tauchsieder aus der Hand gefallen. Ich zog den Stecker und warf ihn in den Abwasch. Goss dann das heiße Wasser in die Kanne mit dem Früchtetee.
»Es geht nicht«, hörte ich mich laut sagen. Und hätte mich dafür am liebsten selbst geohrfeigt.
»Warum nicht?« Enttäuschung machte sich auf Claudius’ Gesicht breit.
»Weil es nicht geht. Weil die Stasi unserer Familie noch viel größeren Ärger machen wird. Sie werden meinen Vater sicher in den Knast stecken, weil er zugelassen hat …«
Ich verstummte, als Claudius’ Miene immer trauriger wurde. Er hatte all die Gefahr auf sich genommen, hatte sich verletzt und hätte so leicht vom Balkon fallen können, und ich hatte Angst, mit ihm in die Tschechoslowakei zu fahren.
»Und was, wenn deine Mutter wirklich noch lebt?«, fragte er schließlich, ohne auf meine Worte einzugehen. »Wenn sie dich aufnehmen würde? Das wäre doch nur rechtens, oder? Eigentlich bist du gar keine richtige DDR -Bürgerin, eigentlich müsstest du durch deine Mutter zwei Staatsbürgerschaften haben.«
So hatte ich das noch nicht gesehen. »Ich weiß ja nicht einmal, wo sie wohnt und ob sie noch mal geheiratet hat und überhaupt.« Auf einmal wurde mir die Kehle eng. Wie sehr hatte ich mich danach gesehnt, meine Mutter noch zu haben! Und wie sehr sehnte ich mich jetzt nach ihr, wo ich wusste, dass
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