Und morgen in das kühle Grab
kümmern musste, ganz egal, ob es gerade
benutzt wurde oder nicht.«
Allmählich wurde es Zeit, zu gehen. Ich spürte, dass
Manuel und Rosa Gomez den schmerzvollen Augenblick,
in dem sie das Haus verlassen würden, nicht noch länger
hinausschieben wollten. Und dennoch hatte ich das
Gefühl, nur ein bisschen an der Oberfläche des Lebens
gekratzt zu haben, das die Menschen hier geführt hatten.
»Mich wundert, dass ich auf dem ganzen Gelände keine
Überwachungskameras gesehen habe«, sagte ich.
»Die Spencers hatten immer einen Labrador gehabt, und
der war ein guter Wachhund. Aber er ist zusammen mit
Jack nach Greenwich gebracht worden, und Mrs. Lynn
wollte keinen anderen Hund haben«, erklärte Manuel. »Sie
sagte, sie sei allergisch auf Haustiere.«
Das war erstaunlich. In der Wohnung in Boca Raton
hatte mir ihr Vater Fotos gezeigt, auf denen man sehen
konnte, dass Lynn mit Hunden und Pferden aufgewachsen
war.
»Wo wurde der Hund gehalten?«, fragte ich.
»Nachts war er immer draußen, außer wenn es sehr kalt
war.«
»Hätte er gebellt, wenn jemand auf das Gelände
eingedrungen wäre?«
Sie lächelten beide. »Oh ja«, sagte Manuel.
»Mrs. Spencer meinte, abgesehen von ihrer Allergie sei
Shep auch zu laut.«
Zu laut, weil er ihre eigenen nächtlichen Ankünfte
verriet? Oder weil er das nächtliche Eintreffen anderer Besucher hätte verraten können?
Ich erhob mich. »Es war sehr freundlich von Ihnen, mir
gerade jetzt Ihre Zeit zu opfern. Ich kann nur bedauern,
dass die Ereignisse der letzten Zeit für viele Leute so
schlimme Folgen haben.«
»Ich bete«, sagte Rosa, »ich bete zu Gott, dass Jack
Recht hat und Mr. Spencer noch am Leben ist. Ich bete,
dass sein Impfstoff am Ende doch wirksam sein wird und
dass die Probleme mit dem Geld sich in nichts auflösen
werden.« Ihre Augen hatten sich erneut mit Tränen gefüllt,
die ihr jetzt über die Wangen liefen. »Und dann bete ich
noch für ein Wunder. Jacks Mutter kann nicht
zurückkehren, aber ich bete, dass Mr. Spencer und diese
wunderschöne junge Frau, die bei ihm arbeitet, eines
Tages zusammenkommen werden.«
»Rosa, sei lieber still«, sagte Manuel fast schon
befehlend.
»Nein, das werde ich nicht sein«, erwiderte sie
herausfordernd. »Wem soll das jetzt noch schaden, wenn
ich darüber spreche?« Sie sah mich an. »Nur ein paar Tage
vor dem Absturz kam Mr. Spencer am Nachmittag nach
Hause, um eine Aktentasche zu holen, die er vergessen
hatte. Das Mädchen war bei ihm. Ihr Name ist Vivian
Powers. Es war ganz offensichtlich, dass sie ineinander
verliebt waren, und ich habe mich so sehr für ihn gefreut.
Er hat so viel Schlimmes in seinem Leben durchmachen
müssen. Mrs. Lynn Spencer war nicht die richtige Frau für
ihn. Falls Mr. Spencer wirklich tot ist, dann bin ich froh,
dass er am Ende seines Lebens noch jemanden gekannt
hat, der ihn wirklich liebte.«
Ich überreichte ihnen meine Karte und verabschiedete
mich. Meine Gedanken überschlugen sich. Vivian hatte
ihre Arbeit gekündigt, ihr Haus verkauft und ihre Möbel
untergestellt. Sie hatte davon gesprochen, ein neues
Kapitel in ihrem Leben anfangen zu wollen. Doch nach
dem Gespräch eben hätte ich ein Vermögen darauf
verwettet, dass dieses Kapitel nicht in Boston beginnen
würde. Und was hatte es mit ihrer Erzählung von dem
unbeachteten Brief auf sich, in dem angeblich eine Frau
behauptete, Dr. Spencer habe auf wundersame Weise ihre
Tochter geheilt? Waren der Brief, die verschwundenen
Aufzeichnungen und die Geschichte mit dem klemmenden
Gaspedal vielleicht allesamt Teil eines ausgeklügelten
Plans, der den Eindruck erwecken sollte, Nick Spencer sei
einer finsteren Verschwörung zum Opfer gefallen?
Ich musste an die Schlagzeile der News denken:
EHEFRAU SCHLUCHZT: »ICH WEISS NICHT, WAS
ICH GLAUBEN SOLL«.
Ich hätte eine neue Schlagzeile anbieten können:
STIEFSCHWESTER WEISS AUCH NICHT, WAS SIE
GLAUBEN SOLL.
22
DIE GÄNGE IM HOSPIZ-FLÜGEL des St. Ann’s
Hospital waren mit Teppichboden ausgelegt, und die
Empfangshalle wirkte einladend mit ihrer breiten
Fensterfront, die den Blick auf eine Teichlandschaft
freigab. Es herrschte hier eine ruhige und friedliche
Stimmung, die vollkommen anders war als die, die ich im
Hauptgebäude des Krankenhauses erlebt hatte oder in dem
Flügel, in dem ich Lynn besucht hatte.
Die Patienten kamen mit dem Wissen hierher, dass sie
diesen Ort lebend nicht wieder verlassen würden. Sie
kamen hierher, um
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