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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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eingegangen.« Sie wiederholt es ein ums andere Mal.
    Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Neunundsechzig Tage Verhandlungen, neunundsechzig Tage Todesangst – für nichts? Laut Display sind eine Minute und sechzehn Sekunden verstrichen. Nazarjan gibt mir zu verstehen, ich solle um Rückruf bitten.
    »Siehst du unsere Nummer auf dem Telefon?«, frage ich meine Mutter. »Kannst du uns bitte zurückrufen?« Dann bricht die Verbindung ab.
    Wir warten. Alle starren auf das Handy in Nases Hand. Nichts geschieht. Auch die vier Striche, die die Qualität des Signals anzeigen, sind verschwunden. Kein Netz. Wir versuchen noch einmal, bei meinen Eltern anzurufen, sie nehmen hektisch an und schreien: »Wir können nicht zurückrufen! Es geht nicht! Was ist bei euch los?« Ich diktiere ihnen erneut die Nummer. Wieder kein Rückruf. Nase setzt den Wagen in Bewegung, kurvt durch Straßen, über Schotterpisten, die Augen immer auf das Display des Handys gerichtet. Das Netz ist verschwunden.
    Ich habe nicht mehr im Kopf, was wir eigentlich sagen sollen. Immer wieder hallt das »Mausi« meiner Mutter in meinem Schädel nach. Meine Mutter, der wichtigste Mensch in meinem Leben, das spüre ich nun ganz deutlich. Ich hatte immer auf Rettung durch meinen Vater gehofft, durch den Kraftmenschen Beat, den durchsetzungsfähigen, manchmal rücksichtslosen Macher. Aber die Liebe zu meiner Mutter ist stärker als jedes andere Gefühl.
    »David«, sage ich, »kannst du … antworten, falls sie … noch einmal anrufen?« David nickt. Ich kann nicht verhandeln, kann nicht funktionieren.
    Der Übersetzer schaltet sich wieder ein und sagt, wir müssten Schriftdeutsch sprechen, keinen Dialekt. Idiot, denke ich, bestimmte Dinge kann man nicht auf Schriftdeutsch sagen. Aber er ist nicht zum Übersetzen da, sondern zum Mithören. David tippt die Nummer meiner Eltern ein, und dann erklingt wieder die Stimme meiner Mutter in der Fahrgastzelle mit den verdunkelten Scheiben, in der die drei bärtigen Taliban-Kämpfer mit den Schnellfeuergewehren sitzen. David sagt ganz sachlich und auf Hochdeutsch: »Yvonne, hör mir zu.«
    »David, David, Daviiiid.«
    »Yvonne, hör mir zu.«
    »David, ja, ich hör dir zu.«
    »Yvonne, ich muss Schriftdeutsch sprechen. Ihr müsst mit der Regierung Kontakt aufnehmen. Es wurde bereits eine Forderung gestellt, und wenn ihr nicht in Verhandlungen tretet, werden wir sterben.«
    »David, es ist keine Forderung eingegangen.«
    »Es muss eine Forderung eingegangen sein. Bringt das mit unserer Regierung auf den Weg, sonst erschießen sie uns.« David gibt das Handy an mich weiter, und dann bricht es aus mir heraus: »Mama, Mama, bitte, mach dir keine Sorgen um uns! Man behandelt uns gut, Mama.«
    »Hat man euch geschlagen?«
    »Nein.«
    »Dürft ihr in einem Bett schlafen?«
    »Ja, Mama. Aber wie geht es dir?«
    »Gut, nur die Augenmigräne macht mir zu schaffen.« Einen Moment stutze ich. Augenmigräne – was soll das bedeuten? Vor unserer Abreise hatte meine Mutter leichte Sehstörungen gehabt. Was ich nicht weiß, ist, dass sich seitdem die Situation dramatisch verschlimmert hat, dass Teile des Sichtfeldes ausgefallen sind, dass sie unerträgliche Schmerzen hat und die Ärzte sich keinen Rat wissen, bis man einen Tumor am Sehnerv entdecken wird.
    »Und unsere Entführung – wie kommst du damit zurecht? Ist es nicht schlimm für euch?«
    Ich höre sie atmen, achttausend Kilometer entfernt. »Das wünsche ich niemandem, dass er so etwas erleben muss.«
    Sie wirkt trotz allem gefasst. Redet wenig. Wahrscheinlich werden sie psychologisch betreut, denke ich, vielleicht ist sogar jetzt jemand bei ihnen, hat sie genauso instruiert, wie die Taliban uns instruiert haben. Tatsächlich will Mama mich an einen Polizisten weitergeben, aber ich möchte Papa haben. »Wo seid ihr, Schatz?«, schreit er. »Wie viele Männer sind bei euch? Daniela, jetzt sprich schon, Schatz.« Er weint wieder. Aber die Fragen sind gezielt, offensichtlich vorgegeben. »Das kann ich dir nicht sagen«, antworte ich, »ich muss die Forderungen übermitteln. Einhundert Mudschahedin sollen freigelassen werden.«
    »Das sind zu viele, Daniela, das bekommen sie nie!«, sagt meine Mutter in ruhigem Ton. Plötzlich ist wieder sie am Apparat.
    »Mausi.«
    »Mama?«
    »Ja.«
    »Hast du das verstanden?«, frage ich.
    »Ja.«
    »Mama, ich schreibe jeden Tag einen Brief an dich, schau den Mond an, sprich mit ihm.«
    Das tut meine Mutter ohnehin, weil sie mich schon als

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