Und morgen seid ihr tot
kleines Mädchen dabei beobachtet hat, wie ich im Schlafanzug unter dem Dachfenster stand, den Mond betrachtete und mit ihm redete.
»Wiederholst du die Forderung bitte noch einmal? Wisst ihr, an wen ihr euch wenden sollt?«, frage ich.
Sie bringt die wenigen Dinge, die ich diktiert habe, durcheinander. Mein Vater nimmt wieder den Hörer, er ist außer sich, weil er sich von der Schweiz hintergangen fühlt. Mein Vater, der wertkonservative Bürger, der an Recht und Ordnung, an die Autorität der Staatsmacht, an »seine Schweiz« glaubt, fühlt sich verraten, ausgerechnet jetzt.
»Papa«, sage ich ganz ruhig, »jetzt hör bitte mal mir zu. Schaut euch das Video vom 13. August an, darin wird eine Forderung gestellt, die ist entscheidend.«
»Ja, mache ich«, brüllt mein Vater, »ich hab schon mit der Bundesrätin telefoniert. Alles Nötige ist getan, hier zu Hause ist alles vorbereitet, sobald die Forderung kommt.« Wieder wechselt in seinem Geschrei wichtiger Inhalt mit Flüchen und Protesten.
Ich glaube trotzdem zu wissen, was seine Worte bedeuten, und es versetzt mir wieder einen Stich. Er hat sein Vermögen flüssiggemacht. Er gibt seine Existenz auf, im Tausch für seine Tochter. Die Taliban würden sagen: Wozu? Er hat doch noch drei andere Kinder.
»Ich wollte hinfliegen, aber die lassen mich nicht«, sagt er verzweifelt. »Wo seid ihr?« Er will nicht einsehen, dass ich das nicht verraten darf. Er hat einen Sturkopf, das wissen wir alle, aber nie konnte ich ihn besser verstehen als jetzt.
»Die Nummer ist aus Afghanistan«, schreit er. »Seid ihr in Afghanistan? Daniela, sag mir jetzt die Wahrheit. Ihr seid doch in Afghanistan!«
»Nein.«
Mein Vater scheint mich nicht gehört zu haben, weil sein Geschrei alles übertönt. »Daniela, sag mir jetzt, seid ihr in Afghanistan?«
»Papi, bitte …«
»Hallo, seid ihr jetzt in Afghanistan, was soll das, ich liebe dich, Daniela, seid ihr in Afghanistan?«
»Nein, Papi, das sind wir nicht.«
»Ja, aber warum diese Nummer, wo seid ihr denn, ach, es tut mir so leid, ich liebe dich, Daniela, ich werde alles tun, ich bin bereit, wo seid ihr denn jetzt …?«
»Papi, das kann ich dir nicht sagen …«
Er weint und stammelt: »Ich will dich endlich … in den Arm nehmen. Jede Minute, jede Sekunde denke ich an dich, Schatz. Dein Bruder ist gerade in Amerika bei Tanja und Seraina, sie alle tun nichts anderes, als auf eure Rückkehr zu warten.«
»Papa, ruft ihr bitte Ursina, Davids Mutter, an und erzählt ihr alles?«
»Sicher.«
Ein Piepsen kommt aus dem Hörer. Das Guthaben ist aufgebraucht.
»Bis bald«, sage ich, »macht euch keine Sorgen, wir werden heil zurückkommen. Ich liebe euch!«
Die Verbindung ist abgebrochen. Nase nimmt mir das Handy aus der Hand, öffnet das Akkufach, holt die SIM -Karte heraus, zerbricht sie und wirft sie aus dem Seitenfenster.
David und ich sehen einander an, mit glühenden Wangen, Tränen in den Augen. »Lass uns nachher alles besprechen«, sagt er mir auf Berndeutsch. Ich nicke.
Nase fährt zurück zur Stadt, hält kurz. Pumba schwingt sich aus dem Wagen und kommt mit einer Art Erdbeermilch und Bonbons zurück, die an alle verteilt werden. Nase setzt den Übersetzer und Pumba am Basar ab, fährt noch eine weite Runde durch Nebenstraßen und kehrt dann zu unserem Innenhof zurück. Offensichtlich will er Spuren verwischen.
Als wir wieder »zu Hause« sind, wie David unwillkürlich sagt, herrscht auch hier Festtagsstimmung. Die Jungs sind erleichtert, dass sich endlich etwas bewegt. Wir sind beseelt von einem Gefühl der Dankbarkeit, unseren Eltern gegenüber für ihre Liebe und ihre Anteilnahme, Nase gegenüber, weil er uns hat telefonieren lassen, den Drohnen gegenüber, weil sie uns einmal mehr verschont haben.
Wir laufen unsere Runden, reden, rufen uns jedes Detail in Erinnerung, denken an die vielen Dinge, die wir noch hätten fragen wollen. Wie geht es Ursina? Was ist aus unserem Bus geworden? Unserem LT 35, in dem mehrere Monate Arbeit, unser Laptop und unser Geld stecken? Was machen Fabian und die anderen Freunde? Wer hat Davids Dienst in der Bahnhofswache übernommen? Haben sie demonstriert, eine Aktion gestartet, kämpfen sie? Wir haben nur einen verschwindenden Bruchteil klären können, aber wenigstens haben wir begriffen, warum unsere Eltern die Verhandlungen nicht beschleunigen konnten. Nicht Desinteresse war schuld, sondern Hilflosigkeit, sie wussten nicht einmal, dass bereits Forderungen eingegangen
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