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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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anblickt. Dann erhebt sich Nazarjan, bittet uns ins Zimmer, und endlich können wir erfahren, warum er gekommen ist.
    »Alle Verhandlungsschritte sind getan«, erklärt er uns. »Sobald die positive Antwort auf die Forderungen eintrifft, könnt ihr gehen.«
    »Sofort?«, fragen wir erstaunt. »Also noch ehe die Forderungen erfüllt wurden? Ihr verlasst euch auf das Wort der Gegenseite?«
    Das Gemisch aus Englisch und Paschtu erschwert die Verständigung, aber wir sind euphorisiert. Es ist Montag, wenn alles problemlos klappt, könnten wir schon am Samstagvormittag in Bern in der Altstadt sitzen und mit Fabian und meiner Freundin Daniela einen Kaffee trinken, rechne ich mir aus. Noch ist Spätsommer in der Schweiz. Es ist noch nicht zu spät, um in der Aare zu baden. David verspricht mir, dass er mit mir bis zum Bundeshaus schwimmen wird.
    »Es wird wohl Oktober werden«, meint Nase, »alles andere ist unrealistisch.« Mir wird schwindlig, wie so oft während der Gefangenschaft. Wir wissen nicht, ob der Schlafmangel, das begrenzte Sichtfeld, die Angst oder der permanente Durchfall daran schuld sind. Sofort, in ein paar Tagen, in einem Monat, für die Taliban scheinen das Synonyme zu sein. Verstehen sie nicht, wie wir unter dieser Beliebigkeit leiden? Nicht einmal Nase, der immer Mitgefühl und ein gewisses Verständnis für unsere Mentalität gezeigt hat?
    »Wollt ihr nicht einfach hierbleiben?«, fragt Nase schließlich, als er unsere Enttäuschung spürt. »Ihr könnt eure Familien nachkommen lassen. Dann leidet ihr nicht mehr unter der Sehnsucht.«
    David und ich schauen einander an. Wir glauben, nicht recht gehört zu haben. Aber für Nase scheint das eine ganz naheliegende Vorstellung zu sein. Natürlich, er kennt ja unsere Welt nicht. Wie so oft sagen wir zu Nase: »Bitte, bitte, Switzerland!« Er versteht inzwischen den Sinn dieser Worte. Manchmal wiederholt er sie betroffen, manchmal macht er sich einen Scherz daraus.
    Am nächsten Morgen schleichen Nase, sein Assistent, den wir Nilpe nennen, und Pumba zeitig davon. Sie sind wie immer geschminkt, frisiert, haben sich die Barthaare gezupft und sich schwer bewaffnet. Und dann beginnt wieder das Warten. Was inzwischen auch den Jailern aufs Gemüt zu schlagen scheint. Die Spannungen nehmen zu. Vor allem Depp strapaziert jedermanns Nerven. Er wird von den anderen mit Verachtung gestraft und rächt sich, indem er immerzu Lärm macht. Vielleicht sucht er nur nach Aufmerksamkeit, aber wenn er einen Hauch Mitleid bei mir erregt, dann tut er alles, um diese Gefühlsregung wieder zu stoppen. Er geht zum Beispiel, während wir schlafen, in unser Zimmer und zieht so lange, ohne jeden Grund, an unserer Wäscheleine, bis diese reißt und alle mühsam von Hand gewaschenen, feuchten Kleider auf die Erde fallen. Oder er benutzt unsere Pfanne, lässt das Essen darin anbrennen und schmeißt die verkrustete Pfanne einfach auf den Boden. Seine Mitstreiter bügeln derlei »Missgeschicke« wieder aus, weil sie uns den Respekt nicht versagen wollen, aber irgendwann wird auch ihnen der Geduldsfaden reißen.
    Manchmal kommt Dumbo mit seinem Moped in den Hof getuckert, kontrolliert unsere Essensvorräte und fragt dümmlich (nachdem er uns vierundzwanzig Packungen Makkaroni gebracht hat), ob wir noch genügend Makkaroni hätten und ob wir überhaupt mit unserem Zuhause zufrieden seien.
    Den Taliban sind alle Zerstreuungen wie Kartenspielen, Musik, Fernsehen und Internet verboten. Sie müssen fünf Mal am Tag beten, ansonsten haben sie nichts zu tun. Wenn ihnen das Herumsitzen unerträglich wird, reinigen sie ihre Waffen oder zupfen, einen Handspiegel vor sich haltend, stundenlang mit einer rostigen Pinzette an ihren Barthaaren. Einziger Zeitvertreib sind die von den Taliban zugelassenen Propagandavideos, die sie oft von morgens halb sieben bis Mitternacht sehen. Zu der immer gleichen leiernden Instrumentalmusik, die durch die Wände und den ganzen Innenhof dröhnt, sehen sie junge, stolze Männer, zum Teil bereits Familienväter, die in strahlend sauberer Kleidung Abschied nehmen von ihren Kindern, Eltern und Frauen. Die Mütter weinen, während die Söhne davonlaufen.
    Sie werden von ihren Commandern beglückwünscht, setzen sich in einen mit Sprengstoff gefüllten Wagen, winken noch einmal in die Kamera, etwas verunsichert lächelnd, und fahren davon, meistens auf einen Armeestützpunkt zu.
    Es folgt eine Explosion, Flammen und Rauchsäulen, zu denen unsere Bewacher »Maschallah, dear

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