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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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sindbad« rufen (»Allmächtiger Gott, wie wunderbar!«). »David, Daniela, kommt, schaut euch das an, es ist großartig. So könntet ihr etwas Gutes tun.«
    Ich antworte immer, dass ich nicht sterben, sondern leben will. Dass die Taliban weniger am irdischen Dasein hängen als wir, verstehe ich mittlerweile allerdings.
    Die Jungs werden immer nachlässiger mit ihren Waffen, lassen sie sogar auf unserem Bettgestell, auf dem zu einem provisorischen Kopfkissen getopften Hemd liegen, als wollten sie uns zur Rebellion animieren.
    Als endlich ein Brief von Hans eintrifft, sind wir voller Hoffnung. Wir falten das Blatt auseinander, ein Zettel von einem Rezeptblock, und lesen, dass er uns bald besuchen und, wie von Nase angekündigt, zehn Tage mit uns verbringen werde. Wir wollen keine zehn Tage mehr absitzen, aber er schreibt, es werde wohl ohnehin noch einen Monat dauern. »It takes time, maybe one month«, diese Worte lese ich wieder und wieder. Ich lasse meinen Tränen freien Lauf, auch wenn mir das untersagt wurde. Es ist mir gleich.
    Also hatte Nase keinen Witz gemacht, als er mir lachend das dicke Notizbuch überreichte und sagte: »September und Oktober.« Noch einen Monat in diesem Schacht? Ohne Blick auf einen Hügel, auf den Horizont, auf Sonnenauf- oder -untergang, einen Baum, einen x-beliebigen Passanten? Noch einen Monat lang rund um die Uhr mit der Angst leben, dass wir doch erschossen werden? Oder dass eine Granate oder eine Rakete in diesem Hof einschlägt? In der Zeitung haben wir von einem Ehepaar gelesen, das in Kenia von Islamisten aus einem Hotel entführt wurde. Als der Mann sich wehren wollte, wurde er liquidiert. Was ist, wenn nur einer von uns beiden überlebt? Wenn ich hier ohne David säße? Ich muss mich zwingen, meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Wir versuchen, uns wieder an dem Einzigen festzuklammern, was uns geblieben ist: unser Leben. Wir müssen diese Entführung gemeinsam überleben und alles andere vergessen. Aber wie soll das gehen? Das Denken lässt sich nicht abstellen.
    Wenn ich zu weinen anfange, wird Guildo Horn giftig und droht, uns zu fesseln und in ein Zimmer zu sperren. Wir hätten keinen Grund, uns zu beklagen. Wir hätten ein Bett, ein Dach über dem Kopf, wir bekämen Zahnpasta und Thunfisch aus der Dose, überhaupt jeden Luxus, den wir uns wünschen. Manchmal fragen die Jailer uns, wie lange wir schon im Innenhof seien. Sie leben in den Tag hinein, ohne Zeitbegriff, ohne jemals auf ein Datum zu achten (das sie ohnehin nicht lesen könnten).
    David ist in eine seiner Wutphasen geraten. Er leidet Hunger, sein Körper ist abgemagert, und wenn er Depp sieht, möchte er ihm am liebsten an den Kragen. Doch von seinen Mordfantasien ahne nur ich etwas. Gegenüber den Bewachern ist er stets freundlich, hat immer ein Lächeln auf dem Gesicht, seine wahren Gefühle sind tief in seinem Innern versteckt.
    Am Abend des 16.   September, Nase ist seit vier Tagen nicht mehr aufgetaucht, Hans seit einem Monat, wird um halb neun an das Tor geklopft. Wir trainieren gerade. Herein kommt Nase mit seinem Assistenten, lässt sich Chai servieren und erklärt uns, wir müssten zu einem Videodreh aufbrechen. Wir würden für diese Nacht in die Nähe von Dumbos Haus verlegt und am nächsten Tag zurückkehren. Ich werde nervös und frage David, ob Nazarjan uns wohl die Wahrheit erzählt. Ob wir nicht vielleicht, da die Verhandlungen gescheitert seien, hinter dem Dorf auf einem Hügel, wie es ihrem Zeremoniell entspricht, erschossen würden.
    Wir packen unseren Topf, Gaskocher und Lebensmittel ein. Locke und Guildo Horn setzen sich in den Kofferraum, David und ich uns auf die Rückbank. Nase fährt wieder einmal wie entfesselt, bei jedem Schlagloch krachen die Köpfe gegen das Autodach. Zwar ist sein Fahrstil immer rasant, aber heute ist er besonders hektisch. Nach einigen Minuten steigen der deutsche Taliban und Dumbo zu. Man hat uns wieder eingeschärft, nicht zu verraten, dass wir ganz in der Nähe untergebracht sind. Nase funkt einen anderen Wagen an, der sich an unsere Fersen heftet. In einem Flussbett steigen wir in das Begleitfahrzeug um. Nase und sein Assistent verschwinden, während uns Sabermuli, ein Taliban, der uns schon einmal bei einer Verlegung gefahren hat, in Dumbos Nachbarhaus bringt. Es ist geräumig und bietet für Nord-Waziristan einigen Komfort: Dusche und WC sowie zwei Ventilatoren. Im Badezimmer gibt es einen Spiegel, der etwa 30   x   50   cm groß ist. Im grellen

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