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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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waren. Warum haben die Schweizer Behörden sie nicht informiert?
    Den ganzen Abend und bis tief in die Nacht liegen wir wach und analysieren alles, teilen unser Glücksgefühl und unsere Zweifel, bis ich in Davids Armen einschlafe. Nächtelang werde ich mir die Stimmen meiner Eltern zurückrufen, das ganze Gespräch wieder und wieder durchspielen. Bei diesem Ritual schlafe ich allmählich ein. Doch dann merke ich nach ein paar Tagen, dass die Stimmen blasser werden, und ich werde panisch, weil mir alles entschwindet.
    Ein Tag nach dem anderen vergeht, ohne dass auf das Telefonat konkrete Fakten folgen. Unsere anfängliche Euphorie hat sich in Grübeleien aufgelöst. Zwar wissen sie zu Hause jetzt, dass schon lange eine Forderung gestellt wurde, aber warum war dies von der Regierung nicht kommuniziert worden? Oder hatte die Regierung selbst keine Forderung erhalten? Trotz der beiden Videos? Irgendetwas läuft falsch. Aber jetzt werden unsere Eltern, unsere Freunde kämpfen, so viel ist sicher. Laut Nase hatten die Schweizer die Taliban gebeten, uns nicht nach Hause telefonieren zu lassen. Wir malen uns aus, wie unsere Familien jetzt öffentlichkeitswirksame Aktionen starten, Plakate kleben, Aufrufe über die Presse verbreiten. In unserer Verzweiflung projizieren wir all unsere Wut auf die Politiker, die einem zynischen Kalkül folgen, um Geld zu sparen, ihr Prestige zu mehren und der Bevölkerung die Wahrheit vorzuenthalten.
    Ich denke daran, wie verzweifelt meine Mutter geklungen hat, wie hemmungslos mein Vater geweint hat, der Mann, der Schwäche nie gezeigt hat. Ihr Leben ist zur Hölle geworden. Habe ich ihnen ausreichend klargemacht, dass ich hier gut behandelt werde? Habe ich sie überzeugen können, oder quälen sie sich mit dem Gedanken, dass ich unter Bewachung stand und die Wahrheit nicht sagen durfte?
    Wir erfahren, dass Hans auf dem Basar war, nur einen Steinwurf entfernt. Warum er uns nicht besuchen komme, wie versprochen, fragen wir. Auch er denke, wir seien sieben Autostunden entfernt, ist die Antwort. Wenn er zu uns stoße, dann für zehn Tage. Was für eine Erleichterung wäre das, zehn Tage lang mit einem Menschen reden zu können, der nicht nur döst, betet und Propagandavideos auf Paschtu sieht! Aber er kommt nicht. Wir scheinen ihm egal zu sein. Jeden Morgen bitte ich unsere Bewacher, von Hans einen Brief mit Informationen zu verlangen. Nicht einmal dieser Brief kommt.
    Wir fangen wieder an von zu Hause zu träumen, von Cremetorten (ich) und riesigen Steaks (David). Vor dem Telefonat hatten wir einen Zustand der Gleichgültigkeit und des Sarkasmus erreicht, in dem wir nichts mehr ernst nahmen, Zeitrechnungen abstreiften und uns in dem Gefühl der Unempfindlichkeit einrichteten. Aber das Gespräch mit unseren Eltern hat unser gesamtes Seelenleben wieder in Aufruhr versetzt, das Koordinatensystem unserer Psyche wieder aktiviert, und nun sind wir wieder wie die Amerikaner, die die Uhren haben, während die Paschtunen die Zeit haben.
    Der Lärm vom Basar, die Detonationen von Granaten und Bomben, das ewige Surren der Drohnen über unseren Köpfen scheinen uns in den Wahnsinn zu treiben, und wenn wir uns dabei beobachten, wie wir angesichts eines herumliegenden Knochens oder einer Telefonnummer, die uns nicht mehr einfällt, die Fassung verlieren, fragen wir uns, ob wir nicht tatsächlich wahnsinnig werden.
    Am Abend des 12.   September wird wieder ans Tor geklopft. Eine dreiköpfige Gruppe aus vermummten Kämpfern tritt ein. Nase mit seinem Assistenten und die braungebrannte Locke. Die Begrüßung folgt immer demselben Zeremoniell. Zuerst kommt die muslimische Einleitungsfloskel: »As-salamu ’alaikum wa rahmatu ’llahi wa-barakatuhu« (»Der Friede sei mit dir und das Erbarmen und die Segnungen Gottes«), dann die Antwort: »Wa-’alaikum s-salam wa-rahmatu ’llahi wa-barakatuhu«. Die Männer reichen einander die rechte Hand und legen die linke aufs Herz. Sie umarmen einander, wobei Dauer und Intensität der Umarmung je nach Art der Beziehung und aktueller Gefühlslage variieren. Dann kommt noch ein Händeschütteln, mit der linken am Herzen.
    Wie immer versuche ich, aus Nases Mimik und der Länge der Umarmung abzulesen, welche Nachrichten er bringt. Er geht an den Wasserschlauch, wäscht Hände, Gesicht, Hals und Füße, und dann kniet er sich nieder zum Gebet. Wir sitzen auf der Treppe und warten, ebenso wie Depp, der nicht mit Nase gemeinsam beten darf und uns wie ein geprügelter Hund

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