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Und morgen seid ihr tot

Und morgen seid ihr tot

Titel: Und morgen seid ihr tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Widmer; David Och
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von Zeit und von den komplizierten Bemühungen der Behörden? Klar ist, kein Staat wird in seinen Verhandlungsleitsätzen möglichst schnell auf die Forderungen von Erpressern eingehen. Vielmehr gehört es zum politischen Kalkül, die Entführer hinzuhalten, herunterzuhandeln und von einer Wiederholungstat abzuhalten. Also setzt man auf eine Zermürbungstaktik, die die Geiseln gerade noch so überleben sollen. Und wenn dieses Kalkül nicht aufgeht? In jenem Augenblick hatten wir tatsächlich keinen Begriff von Staatsräson, wir hatten einen Gewehrlauf im Genick, und unser Begriff von Zeit entsprang unserem Gefühlszustand, der Folge von neunzig Tagen Geiselhaft.
    Drei Mal müssen wir die beiden Varianten abdrehen, David spricht den auswendig gelernten Text, ich schließe jeweils mit: »Sie werden uns erschießen.« Ich bringe es kaum über die Lippen, es ist, als würde diese Aussicht real werden, wenn ich sie laut ausspreche, vor all diesen Ohrenzeugen und vor der ganzen Welt, die mit diesem Video unter Druck gesetzt werden soll. Das Objektiv starrt mich an, ein kleiner silberner Ring, und ich starre in dieses schwarze Auge, das über mich zu richten scheint. Wir sollen uns anstrengen, damit unsere Angst deutlich wird, aber Anstrengung ist dazu nicht nötig. Am Ende halten wir eine zwei Tage alte Zeitung ins Bild und sagen, dass heute der 17.   September ist. Ich werde nach unten geführt, und wieder bleibt David bei den Kämpfern. Später erfahre ich, dass sie noch weitere Aufnahmen gedreht haben, bei denen er von der Entführung und der Behandlung in Gefangenschaft berichtet.
    Als David zurückkommt, fangen wir an, unser Mittagessen herzurichten, die letzten Kartoffeln, die uns geblieben sind. Gewöhnlich besprechen wir jedes Ereignis, versuchen Rückschlüsse auf die Restdauer unserer Haft zu ziehen. Diesmal verspürt niemand von uns das Bedürfnis zu reden. Wir kochen und lesen die Zeitung, die ich nach dem Dreh unter meinem Hemd hinausgeschmuggelt habe.
    Dann setze ich mich in die Sonne und schließe die Augen. Das frische Gras riecht nach Heimat, wie das Gras, das ich am Wochenende immer beim Bauern an der Dorfstraße in die Kuhtröge schaufelte. Die Drohnen surren am Himmel wie Motorsegler, die Vögel zwitschern. Ich bin in Gedanken in der Schweiz, auf einer Wiese, im Spätsommerlicht.
    Man hat uns wieder in den engen Innenhof zurückgebracht. Wir liegen auf dem Bettgestell und warten, jede Minute drücke ich auf den Knopf der Digitaluhr und betrachte die grünen Ziffern, die aufleuchten. Zwar versuchen wir, uns durch das Erfinden neuer Denkspiele und die Erweiterung unseres Sportprogramms bei Laune zu halten, doch im besten Fall ist unsere Laune sarkastisch. Falls wir jemals wieder in die Freiheit entlassen werden sollten, können wir im Zirkus auftreten, sagen wir uns. Wir laufen auf Händen, David ist inzwischen ein passabler Jongleur. Wir führen sinnlose Diskussionen mit den Bewachern, wie lang die Fingernägel einer Frau sein dürfen, ob ich mich im T-Shirt zeigen, auf welcher Treppenstufe ich sitzen darf. Ist Guildo Horn schlecht gelaunt (in den letzten Wochen fast ausschließlich), dann darf ich nur am Fuß der Treppe sitzen, von wo aus ich weder Wolken noch Vögel sehen kann. Nur die grauen Umgrenzungsmauern, an denen ich bereits jeden Riss, jede Fuge genau studiert habe.
    Die Bewacher gehen uns auf die Nerven, wir ihnen, sie einander. Guildo Horn widmet seine Liebe dem einzigen Baum im Innenhof, den wir gemeinsam mit Locke von Spinnweben und Dreck befreit haben. Fünf Guaven hängen daran, eine für jeden von uns, hat uns Guildo Horn erklärt. Doch eines Tages kommt Dumbo in den Hof geknattert, spaziert unter dem Baum vorbei, hüpft wie ein grotesker Tanzbär, aber mit erstaunlicher Sprungkraft, und klaut sich eine Guave vom Ast. Schon mehrmals hat Dumbo sich mit eindeutiger Absicht den Früchten genähert, und jedes Mal hat Guildo Horn ihn mit heftigen Worten zurückgepfiffen. Das hier sei nicht sein Haus, er könne sich nicht als Herrscher aufspielen. Doch noch ehe Dumbo gelandet ist, hat er in die reife Guave gebissen und schmatzend zu kauen angefangen. So unbeholfen er bei der Lebensmittelbeschaffung für uns war, so alert ist er bei der Befriedigung seiner eigenen Fressgelüste.
    Soweit wir beobachten konnten, werden Konflikte unter den Taliban gewaltfrei gelöst. Selbst lautstarke Diskussionen sind selten. Aber ich glaube, Guildo Horn hätte den fetten, dreisten Dumbo in jenem Augenblick am

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